Nach dem Zerfall der Sowjetunion stürzte Moldawien in eine schwere Krise. Zwanzig Jahre danach ist es das ärmste Land Europas. Ein Besuch mit dem Roten Kreuz bei den Menschen von Moldawien.

Anisia und Mihai sind seit 55 Jahren verheiratet. Anisia kümmert sich um ihren taubblinden Mann und pflegt den Gemüsegarten.

Die knotigen Hände von Mihai und Anisia Panosh umfassen einander sanft. Die tiefe, hellblaue Decke und die Vorhänge umrahmen die winzige Welt des Ehepaars, deren Zentrum der Ofen ist. Seit 55 Jahren wissen die beiden, dass sie aufeinander zählen können. Heute ist dies nötiger denn je: Mihai ist taubblind. «Das Leben war nie so schwierig wie heute. Wir haben unser Leben lang den Boden bestellt; jetzt haben wir keine Kraft mehr. Nur das Rote Kreuz hilft uns», seufzt die 78-jährige Anisia. Ihr Blick streift den Garten, wo Zwiebeln, Sellerie, Erbsen und Karotten wachsen. Das Ehepaar Panosh ist allein, seit der Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ihre Renten – 60 und 80 Franken im Monat – müssen zum Leben reichen.

Hier in Criuleni – 20 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Chisinau – sind sie nicht die Einzigen, die darben müssen. In derselben Strasse lebt die alte Witwe Godoroca. Sie habe zwar Kinder, klagt sie, doch hätten diese alle Brücken hinter sich abgebrochen. «Mein Sohn arbeitet in Russland und hat sich aufgegeben. Meinen zwei Töchtern reicht das Geld kaum für die eigenen Familien. Ich fühle mich sehr allein», erzählt sie mit wuterstickter Stimme. «Zu den Zeiten der UdSSR gings uns besser, am Monatsende hatten wir Geld und etwas zu essen.»

20 Jahre sind inzwischen seit dem Zerfall der Sowjetunion vergangen. Seither entwickelt sich die Republik Moldawien zum Armenhaus Europas. Zerrieben von politischen Ränkespielen und ethnischen Spannungen (70 Prozent der Bevölkerung ist rumänischer, 20 Prozent russischer Herkunft) musste sie der Abspaltung ihrer östlichen Region Transnistrien ohnmächtig zusehen.

Links: Svetlana ist 44 und lebt für ihre Kinder. Beide sind geistig behindert; der Ehemann hat Epilepsie. Mit viel Mut hält die Frau ihre über Wasser. Rechts: Hlaria Strugati ist Witwe und gehbehindert. Sie ist ganz von der Hilfe des Roten Kreuzes abhängig.

Bis heute ist das Bruttoinlandprodukt von Moldawien nicht mehr auf das Niveau von 1990 gestiegen. Statistiken der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zeigen, dass 70 Prozent der Bevölkerung auf dem Land keinen Zugang zu Wasser und akzeptablen Sanitäreinrichtungen haben. 20 Prozent leben in totaler Armut, eine Million Menschen sind emigriert. Zurück bleiben die Kinder – wenn sie Glück haben in der Obhut der Grosseltern. «Es gibt ganze Dörfer von allein oder bei den Grosseltern lebenden Kindern», bestätigt Georgette Bruchez, Leiterin des DEZA-Kooperationsbüros in Moldawien.

Schockierende Armut in Europa

«Es ist bitter, das zuzugeben, aber obwohl unser Land alles hätte, um zu prosperieren, können wir die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme nicht überwinden», sagt Larisa Birca, Präsidentin des Moldawischen Roten Kreuzes (MRK). «Zum Glück können wir seit sieben Jahren auf ‹2 × Weihnachten› zählen». Die Spendenaktion der Schweizerischen Post, des Schweizerischen Roten Kreuzes und der SRG SSR sammelt für verschiedene osteuropäische Länder Lebensmittel und Hygieneartikel. «Schockierend, dass in Europa, so nah von uns, Menschen in grösster Not leben», findet auch Josef Reinhardt vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK).

Durch eine sanfte Hügellandschaft verlassen wir auf holprigen Strassen die Hauptstadt in Richtung Ungheni an der Grenze zu Rumänien. In der Luft wirbelt Pappelflaum. Die bunt gestrichenen Holzhäuser sind von Gärten umgeben. An den Kreuzungen blicken Christusfiguren feierlich auf die Strasse.

Elena Gavrisov, 67, Leiterin des lokalen Sitzes des MRK, führt uns zu ihren Schützlingen: «In den letzten Jahren hat die Armut übermässig zugenommen, und der Staat hat uns aufgegeben. Es fehlt an allem: haltbaren Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Windeln für die Kinder und die Betagten.»

Die Familie Bargan lebt in einem Dorf auf dem Land, nahe der rumänsichen Grenze, in einer trostlosen Behausung ohne Strom un Toilette. Wasser holt die Familie am Brunnen.

Im Dorf Todireshti besuchen wir die Familie von Ana Bargan. Zwei der sechs Kinder hat ihre Schwester zurückgelassen. Im Hof des blaugrünen Hauses tummeln sich Hühner, Gänse, Enten, ein Kalb und ein struppiger Hund. «Wir leben von dem wenigen, was der Garten hergibt. Die Lebensmittel aus der Schweiz sind ein Segen», erklärt Ana, die mit ihren 30 Jahren eher wie 50 ausschaut. «Ich will, dass die Kinder zur Schule gehen und es einmal besser haben als ich.» Tochter Elena, in dreckigen Kleidern, erzählt, dass sie jeden Tag zu Fuss zur Schule gehe und Turnen ihr Lieblingsfach sei. Im Vorratsraum lagern nur Brot und Milch. Geheizt wird mit Holz. Wasser holt man vom Dorfbrunnen. Und das WC? «Wir gehen einfach nach draussen», erklärt Anas Mutter.

In der Nähe wohnt auch Hlaria Strugati, Jahrgang 1933. Ihr Haus ist ärmlich, aber sauber. Sie zeigt uns ihren einzigen Identitätsausweis: einen Pass der UdSSR. Der Diabetes zwingt sie, sich beim Gehen auf zwei Stöcke zu stützen. Als sie das Paket von «2 × Weihnachten» in Empfang nimmt, murmelt sie verschämt: «Multumesc», danke.

Beinahe für Schnaps verkauft

«2xWeihnachten» erreicht auch die 30 Kinder im Waisenhaus AMIC in Larga, an der nördlichen Grenze zur Ukraine, das Kinder aus prekären familiären Situationen aufnimmt.

Jedes Zimmer im Waisenhaus ist andersfarbig gestrichen und beherbergt vier Kinder zwischen 4 und 16 Jahren. Die Kinder leben in einem liebevollen Umfeld und entdecken hier neu, was es bedeutet, in sauberen Verhältnissen in einem strkturierten Alltag zu leben.

«Sie lieben Pingpong und Fussball», erklärt eine Erzieherin. Die Leiterin der Einrichtung, Elena Iacubencu, hat weniger Erbauliches zu berichten: «Ein Mädchen wurde fast vom Vater für eine Flasche Alkohol verkauft. Ein anderes wurde von der Mutter, weil es zwei Rubel verlor, so verprügelt, dass es nicht mehr spricht.» Viele Kinder hat die Polizei hergebracht. «Die meisten Eltern besuchen ihre Kinder nie. Wir versuchen, ihnen ein möglichst normales Leben zu bieten, bringen ihnen Kochen und Bügeln bei, schicken sie zur Schule.» Die spärliche Hilfe des Staates trifft nur sporadisch ein. Die Kleider, Spielsachen und Lebensmittel von «2xWeihnachten» sind ein Geschenk des Himmels.


Bilder: Amer Kapetanovic

Dieser Artikel erschien im «Magazin» im November 2011