Das Aufkommen eines neuen Leitmediums verändert das Selbstverständnis der Menschen und die Formen des Zusammenlebens. Deshalb reformiert sich in Zeiten eines Leitmedienwechsels die Gesellschaft: Die Sprache hat zur Stammesgesellschaft, die Schrift zur antiken Hochkultur und der Buchdruck zur modernen Gesellschaft geführt. So teilen Sozialwissenschaftler*innen die Menschheitsgeschichte in Medienepochen ein.
Mit dem Internet ist eine weitere Medienepoche angebrochen. Das Internet vernetzt Menschen und Organisationen, Maschinen und Dinge des Alltags. Kommunikation wird im Internet erstmals von Computern übermittelt und Computer beteiligen sich erstmals selbst an Kommunikation. Das Internet bildet die Infrastruktur für Netzwerkmedien. Sie sind die Leitmedien der Netzwerkgesellschaft.
Netzwerkmedien sind hochkomplexe, nichtlineare Systeme. Niemand weiss, wann, wo, welche Themen und Akteure in ihnen auftauchen. Niemand kann abschätzen, ob die Themen auf Resonanz stossen und ob sich neue soziale Bewegungen bilden. Unordnung ist die Ordnung der Netzwerkgesellschaft: Entsprechende Umwälzungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft können wir täglich beobachten.
Es ist nicht absehbar, wohin uns das alles führt. Trotzdem und gerade deshalb sind wir entschlossen, die aktuelle Reformation der Gesellschaft mitzugestalten. Dies tun wir, indem wir über eine neue Art des Journalismus unter der Bedingung von Netzwerkmedien nachdenken und mit tapwriter einen Ort für dessen Entwicklung schaffen. Denn eines ist gewiss: Auch die Netzwerkgesellschaft braucht für ihre Selbstbeobachtung und für ihre kritische Selbstreflexion eine publizistische Öffentlichkeit.
Die Suche nach einer neuen Art des Journalismus ist ein ehrgeiziges und langfristiges Projekt. Eines, das wir zusammen mit dir und anderen engagierten Menschen anpacken wollen. Die neun Leitsätze von tapwriter dienen uns dabei zur Orientierung.
1. Wir arbeiten am Journalismus von morgen
Journalismus lebt von Krisen. Er berichtet über entscheidende Wendungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Er beobachtet und beschreibt, wie Krisen entstehen und wie sie in einer Katastrophe enden oder zu einem Neuanfang führen. Nicht selten dokumentiert er, wie der Status quo wiederhergestellt wird. Seine Stellung als objektiver Beobachter und Beschreiber des Zeitgeschehens war lange Zeit unumstritten. Doch nun befindet sich der massenmedial veranstaltete Journalismus selbst in der Krise – nicht ohne Gründe.
Medien konstruieren Realitäten. Seit dem Buchdruck tun sie dies anhand linear-kausalen und hierarchischen Prinzipien. Sie haben die letzten 500 Jahre Mensch und Gesellschaft geprägt. Alles was passiert, beruht auf Ursache-Wirkung-Beziehungen und auf komplizierten Herrschaftsordnungen.
In einer dicht vernetzten Welt jedoch greifen diese Prinzipien zu kurz. Denn in ihr offenbaren sich widersprüchliche Wirklichkeiten und heterarchische Ordnungsstrukturen. Das objektive Beobachten und Beschreiben dieser Welt ist unmöglich geworden. Der klassische Journalismus scheitert an der Komplexität der sich in Netzwerkmedien formierenden Gesellschaft.
Heute ist es der Journalismus selbst, der vor einer entscheidenden Wendung steht: Der Status quo ist nicht länger haltbar. In einer Katastrophe enden soll der Journalismus auch nicht. Denn die Netzwerkgesellschaft braucht eine publizistische Öffentlichkeit - neugedacht unter den Bedingungen einer vernetzten Welt.
Deshalb arbeiten wir mit engagierten Menschen am Journalismus von morgen.
2. Wir vernetzen Journalist*innen mit Communitys
Massenmedien sind Verbreitungsmedien. Sie haben das Publikum vom Medium technisch so entkoppelt, dass keine unmittelbare Interaktion zwischen Sender und Empfänger möglich ist. Der klassische Journalismus hat sich deshalb auf das Geschäft der Auswahl, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen spezialisiert. Rückmeldungen von Leser*innen, Zuhörer*innen und Zuschauer*innen sind beschränkt möglich.
Netzwerkmedien haben die technische Entkopplung zwischen Sender und Empfänger aufgehoben. Redaktionen sind direkt adressierbar. Beiträge von Journalist*innen können kommentiert werden. Das Publikum hat nun direkten Zugang zum Medium. Einen souveränen Umgang mit den neuen Interaktionsmöglichkeiten hat der Journalismus indes noch nicht gefunden.
Dabei ist es offensichtlich, dass Netzwerkmedien aus dem stummen Publikum aktive Nutzer*innen mit viel Potenzial für neue Formen des Austausches gemacht haben. Soll dieses Potenzial ausgeschöpft werden, müssen Journalist*innen ihre publizistische Verantwortung ausweiten. Sie betrifft nicht mehr nur die inhaltliche Sorgfaltspflicht bezüglich eines Beitrages, sondern auch Fragen und Diskussionen rund um den Beitrag. Wurde die Darstellung der Tatsachen richtig verstanden? Bleiben drängende Fragen unbeantwortet? Gibt es im Beitrag falsche Fakten? Fehlen wichtige Argumente? Erst mit der Beantwortung derartiger Fragen aus der Community kann Journalismus aus dem stummen Publikum wirklich informierte Bürger*innen machen.
Deshalb vernetzen wir mit tapwriter Journalist*innen mit Nutzer*innen. Wir schaffen eine Plattform für neue Beziehungen und Formen des Austausches – auf Augenhöhe. So können Communitys entstehen, die auf Basis von Fakten und konstruktiven Gesprächen die Polarisierung in der Gesellschaft reduzieren und gegenseitiges Verständnis fördern.
3. Wir öffnen das journalistische Rollenverständnis
Der Beruf der Journalist*innen ist unter Bedingungen von Massenmedien entstanden, die heute nicht mehr gegeben sind. Die exklusive Publikationsmacht und die damit verbundene Interpretations- und Deutungshoheit versahen Journalist*innen lange Zeit mit Autorität.
In der Netzwerkgesellschaft kommunizieren nun alle mit allen – ununterbrochen, überall und offensichtlich. Dies hat zu einer dramatischen Verschiebung der Publikationsmacht und zu einem erhöhten Wettbewerb um Interpretations- und Deutungshoheit geführt. Die Autorität der Journalist*innen bröckelt. Gleichzeitig nehmen Unsicherheit und Unruhe in der Gesellschaft zu: Was passiert in diesen bewegten Zeiten eigentlich? Was bedeutet das alles für mich? Wer bietet Orientierung?
Netzwerkmedien haben zu einer Demokratisierung der publizistischen Öffentlichkeit geführt. Immer mehr Menschen sind publizistisch tätig. Es sind Menschen, die zugunsten ihrer Eigeninteressen die Öffentlichkeit zu manipulieren versuchen. Es sind aber auch Menschen, die bereit sind, ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit anderen Menschen zu teilen. Diese neue Art des Journalismus wird sich nicht am Anspruch auf Wahrheit und Objektivität, sondern an möglichst viel Authentizität und Transparenz messen lassen müssen. Es wird künftig also mehr, nicht weniger Journalist*innen geben.
Deshalb diskutieren wir bei tapwriter die Fragen: Wer sind die Journalist*innen der Netzwerkgesellschaft? Was für Erwartungshaltungen haben wir an sie? An welche Standards sollen sie sich halten?
4. Wir schaffen neue Formen der Beteiligung
Massenmedien haben das Publikum auch inhaltlich vom Medium so entkoppelt, dass kein Austausch möglich ist. Redaktionen wählen aus der täglichen Flut an Informationen aufgrund eigener Kriterien einzelne Themen aus und bereiten sie für das Publikum auf. Doch dem Publikum ist inzwischen klar geworden, dass die von Massenmedien konstruierten Realitäten wenig mit ihrem Leben zu tun haben.
Netzwerkmedien erlauben es den Nutzer*innen, gemäss ihren Interessen einen eigenen Informationsmix zusammenzustellen. Sie konstruieren so ihre eigene Medienrealität, die in stetiger Konkurrenz zur Medienrealität der Massenmedien steht. Dies hat dazu geführt, dass sich Redaktionen im Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums noch stärker an populären Themen orientieren, ihre Auswahlkriterien an Klick- und Einschaltquoten ausrichten.
So werden Ereignisse als relevant angepriesen, die keinen wirklichen Bezug und keine Bedeutung für die Lebensumstände der Leser*innen, Zuhörer*innen und Zuschauer*innen haben. In ihrer eignen Logik gefangen, entfernen sich die Massenmedien ironischerweise immer mehr von ihrem Publikum, namentlich der jüngeren Generation.
Deshalb ermöglichen wir bei tapwriter neue Formen der direkten Beteiligung. So können Journalist*innen gemeinsam mit den Nutzer*innen erörtern, welche Themen recherchiert und aufbereitet werden sollen. Wenn die Informationsbedürfnisse, Lebensumstände und Wissen der Community in die Themenwahl einfliessen kann, wird eine neue Art des Journalismus möglich.
5. Wir fördern Perspektivenvielfalt an einem Ort
Jedes Massenmedium verfolgt wirtschaftliche Interessen, steht für eine gesellschaftspolitische Haltung und hat einen geographischen Fokus. Dass diese Rahmenbedingungen Einfluss auf die Arbeit von Journalist*innen haben, ist bekannt. Das kritische und weltoffene Publikum weiss, damit umzugehen. Es hat bisher unterschiedliche Massenmedien konsultiert, um Ereignisse und deren Bedeutung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet zu bekommen.
Inzwischen haben Massenmedien ihre exklusive Stellung als Vermittler von Informationen an Suchmaschinen und Social-Media-Plattformen verloren. Letztere entbündeln Inhalte von Massenmedien und bündeln sie neu zusammen mit Inhalten von teils unbekannten Quellen aus dem weltweiten Netz. Zwar erhalten Nutzer*innen so verschiedene Perspektiven auf die Welt, müssen aber selbst die Interessen und Glaubwürdigkeit der jeweiligen Quellen prüfen.
Deshalb vernetzen wir mit tapwriter Journalist*innen aus aller Welt mit sich selbstorganisierenden, themenorientierten Communitys. In der Absicht, ohne gesellschaftspolitischen Einigungszwang und mit möglichst hoher Nachvollziehbarkeit der verschiedenen Gesichtspunkte, an einem Ort den Lauf der Dinge aus einer Vielfalt von Perspektiven zu beleuchten.
6. Wir entwickeln neue Formen und Formate
Bilder und Texte prägen Menschen und Menschen prägen Texte und Bilder. Seit dem Buchdruck haben sich immer mehr Menschen Wissen über die Welt nach Texten mit linear-hierarchischen Strukturen angeeignet. Der Journalismus hat hierzu informierende und meinungsbildende Textformen entwickelt. Die zu ihnen passenden Bilder dokumentieren jeweils den Realitätsbezug. Denn im Unterschied zum Text lassen Bilder keinen Widerspruch zu. Deshalb spielen sie in den Massenmedien eine so wichtige Rolle.
In Netzwerkmedien etablieren sich nun ganz neue Strukturen und Formen im Umgang mit Bild und Text. Einerseits sprengen Hyperlinks und Hashtags die Grenzen linear-hierarchischer Textstrukturen. Die so entstehenden Hypertexte haben keinen eindeutigen Sinn mehr und verfügen über keine hierarchische Ordnung. Bilder andererseits werden aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, verändert und neu verwendet. Sie dokumentieren nicht länger einen Bezug zur Realität; ihre Bedeutung erschliesst sich durch immer wieder neue Anwendungen in neuen Kontexten.
Netzwerkmedien werden in Zukunft auch ganz neue publizistische Formate hervorbringen. Einerseits sprengen Netzwerke jede Vorstellung von Ort und Zeit: Erste Versuche im Bereich des immersiven Journalismus, welche mittels virtueller Realitäten die unmittelbare und uneingeschränkte Teilhabe an Ereignissen imaginieren, lassen erst erahnen, wie Medienrealitäten künftig konstruiert werden. Andererseits machen Netzwerke Akteur*innen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft für Konsument*innen, Mitarbeiter*innen sowie Bürger*innen direkt ansprechbar. So können neue Diskussionsformate entstehen, in denen Journalismus eine moderierende Funktion übernehmen könnte.
Die Strukturwandel von Informationen, die Dekontextualisierung von Bildern und die Innovation neuer Formate wirken auf Menschen und Gesellschaft – auch auf den Journalismus.
Deshalb sehen wir tapwriter als ein Labor, in dem wir im Austausch mit Journalist*innen und Nutzer*innen diese Entwicklungen reflektieren und schrittweise neue Formen und Formate entwickeln.
7. Wir sind der Selbstbestimmung verpflichtet
Massenmedien waren schon immer ein Mittel zur Aufklärung und Emanzipation: Ohne Buchdruck keine allgemeine Alphabetisierung, keine breite Bildung, keine kirchliche Reformation und keine sozialen Revolutionen. Massenmedien waren aber immer auch Mittel zur Kontrolle und Manipulation.
Mit Netzwerkmedien verhält es sich nicht anders. Mit dem Internet kam viel Hoffnung auf mehr Demokratie und Selbstbestimmung auf. Während des Arabischen Frühlings nutzten die Aufständischen Social Media für die Mobilisierung. Die westliche Welt applaudierte. Doch nur wenig später kam die grosse Ernüchterung: Edward Snowden machte die Überwachungspraktiken der US-Regierung publik. Und Social Media, das wissen wir inzwischen auch, haben sich zu weltweiten Datenkraken entwickelt. Das Internet und Social Media sind kaputt. So das Verdikt der Expert*innen.
Die Netzwerkgesellschaft ist eine Kontrollgesellschaft. Die Bürger*innen beziehungsweise die Konsument*innen werden beobachtet, vermessen, getrackt, manipuliert – immer und überall.
Deshalb verwenden wir bei tapwriter Technologie, um die informationelle Selbstbestimmung der Journalist*innen und Nutzer*innen zu garantieren. Sie alleine, keine Algorithmen bestimmen, was für Inhalte sie zu sehen bekommen. Und sie alleine bestimmen, was mit ihren Daten passieren darf.
8. Wir setzen auf einen unabhängigen, selbstfinanzierten Journalismus
Journalismus ist vor allem in den Printmedien stark in Bedrängnis geraten: Werbegelder wandern ins Netz ab. Abonnentenzahlen sinken. Vordergründige Informationsbedürfnisse werden mit Gratisangeboten gestillt, offline und online. Wie prekär die Situation ist, zeigt sich im Stellenabbau in Redaktionen, in der Medienkonzentration, im Qualitätsverlust und nicht zuletzt im zunehmenden Vertrauensverlust. Dabei wäre die Entkopplung von Werbegeldern eine Chance, den unabhängigen Journalismus zu stärken. Doch seine Finanzierung gleicht heute der Quadratur des Kreises.
Parallel zur Finanzierungskrise des Journalismus haben sich in der Netzwerkgesellschaft neue Marktplätze entwickelt und etabliert. Digitale Plattformen wie Amazon, Airbnb, Uber, Google oder Facebook verändern die Art und Weise, wie Menschen weltweit Dinge bestellen, Zimmer reservieren, von A nach B gelangen, nach Informationen suchen oder mit Freunden kommunizieren. Die Betreiber solcher Plattformen organisieren einen spezifischen Markt, in dem sie Suchende und passende Angebote direkt zusammenbringen, vernetzen und Transaktionen ermöglichen. Angesichts dieser Entwicklungen scheint das auf Werbung basierende Verlagsmodell mit festen Redaktionen sowie teuren Produktions- und Distributionskosten ausgedient zu haben.
Deshalb greifen wir die Idee des Marktplatzes auf. Wir organisieren mit tapwriter einen Community-Marktplatz für einen starken, unabhängigen Journalismus der neuen Art. Er ist werbefrei und wird es für immer bleiben. Journalist*innen können auf tapwriter ihre Community aufbauen und pflegen, ihre Arbeiten vorstellen, diskutieren und finanzieren. Demgegenüber können bezahlende Nutzer*innen gezielt die Arbeit von Journalist*innen unterstützen.
9. Wir hören zu und lernen
In der modernen Gesellschaft haben sich in Unternehmen hierarchische Strukturen als heilige Ordnung etabliert. Doch immer mehr Unternehmen merken, dass diese Organisationsstruktur der Netzwerkgesellschaft nicht mehr angemessen ist. Das zeigt sich daran, dass einige Unternehmen sich in einer Endlosschlaufe von Reorganisationen verlieren und andere sich neugierig an neue Organisationsformen herantasten.
Offensichtlich ist, dass sich Netzwerkstrukturen auch in Unternehmen durchsetzen und die Kommunikation und Zusammenarbeit radikal verändern. Auch sie werden so zu hochkomplexen, nichtlinearen Systemen. Um diese Transformation erfolgreich zu meistern, müssen Unternehmen ihre starren Strukturen aufbrechen und zu lernenden Organisationen werden. Das heisst: In einen Dialog treten, beobachten, nachfragen, lernen und das Gelernte konsequent umsetzen.
Genau das wollen wir bei tapwriter von Anfang an tun. Wir wollen zuhören und lernen. Wir wollen zusammen mit unseren Nutzer*innen und Journalist*innen eine Plattform schaffen, welche die gegenseitige Verständigung fördert und neues Vertrauen für eine neue Gesellschaft bildet. Wir wollen am Journalismus von morgen arbeiten – gemeinsam als Community.