Wir sind in hohem Mass von Deutschland abhängig. Grund genug, einmal über den Zaun zu schauen.
Unter Schweizern ist es gang und gäbe, über unsere Nachbarn im Norden abzulästern. Sie seien ruppig und direkt, führen gerne die Ellbogen aus und wirkten im Ausland als Touristen wie eine Heuschreckenplage, wenn sie die Buffets leerräumen und alle Liegen mit ihren Handtüchern reservieren.
Aber um die Deutschen geht es mir heute nicht (von denen übrigens über 300’000 bei uns leben), mir geht es um Deutschland. Wir sind in beträchtlichem Umfang auf die Wirtschaftskraft dieses Landes angewiesen. Rund ein Viertel unseres ganzen Aussenhandels findet mit Deutschland statt. Unzählige Schweizer Technologie-Unternehmen sind in hohem Mass von ihren Abnehmern im Norden abhängig. Verlieren die grossen deutschen Autokonzerne Umsatz in China (wie aktuell der Fall), klappern in vielen Schweizer KMU die Zähne. Und für viele Schweizer IT-Firmen ist Deutschland ein wichtiger Markt – oft der wichtigste Auslandsmarkt.
Überhaupt ist der ganze Kontinent ganz massiv auf die Leistungsfähigkeit dieses Landes angewiesen. Es ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land (⅙ der EU) und hat das höchste Bruttoinlandprodukt (¼ der EU), sondern ist auch bei weitem der grösste Beitragszahler der Europäischen Union.
Die Kurve zeigt nach unten
Seit vielen Jahrzehnten ist Deutschland der ökonomische Motor Europas und hat sich als Exportweltmeister bekannt (und bei Donald Trump verhasst) gemacht. Nun scheint der Motor jedoch zu stottern. Erstmals hat nach dreissig Jahren Deutschland in einem Monat mehr importiert als exportiert. Dies ist natürlich nur eine Momentaufnahme in gewiss unnormalen Zeiten und doch glaube ich, dass Deutschland zunehmend ein Riese auf tönernen Füssen ist. Ich will hier allerdings nicht auf das politische (Nicht-)Management durch die aktuelle Regierung eingehen, sondern auf ein tieferliegendes Problem.
Meine Diagnose: Deutschland leidet an einer Überdosis Vollkasko-Mentalität. Es darf nichts passieren, und wenn doch einmal etwas passiert, wird sofort dagegen reguliert. Wer sich einmal in die Untiefen des deutschen Verwaltungsrechts begeben hat, weiss, wovon ich spreche. Jedes Detail und jeder Einzelfall soll zum vornherein geklärt und rechtssicher abgewickelt werden können – am besten mit einem Instanzenzug bis zum Bundesverfassungsgericht. Nur in Deutschland ist es deshalb möglich, dass sich eine Satiresendung im Hauptprogramm mit einer wöchentlichen Rubrik halten kann, die allein Schildbürgerstreiche der Verwaltung und Behördenpossen aufs Korn nimmt („Der reale Irrsinn“).
Das Prinzip Vollkasko ist einfach: Vorschriften haben immer Vorrang, unabhängig davon, was es für Folgen zeigt. Dies hat verschiedene gravierende Folgen, von denen hier nur eine erwähnt sei: Planungszyklen werden unendlich kompliziert, verzweigt und vor allem dauern sie ewig lang. Es gibt einen Grund, weshalb „BER“ zur Lachnummer wurde und Stuttgart 21 eigentlich Stuttgart 25-30 heissen müsste. Laut zuständigem Bundesamt sind 3’000 Autobahnbrücken in einem „nicht ausreichenden und ungenügenden Zustand“, aber es kommt nicht in Frage, beschleunigt zu sanieren. Es wäre zwar technisch problemlos und ohne Abstriche an der Sicherheit möglich, die einzelnen Bauwerke in zweieinhalb statt in fünf Jahren fit zu machen. Aber dem stehen offenbar Heerscharen von Bestimmungen in DIN-Normen entgegen. So wird halt lieber eine zunehmende Anzahl Brücken für Jahre gesperrt und der Verkehr umgeleitet. Was dies in einem Land mit wenig öffentlichem Verkehr und unzähligen Autopendlern volkswirtschaftlich für Folgen hat, kann man sich unschwer vorstellen.
Die Rolle der EU
Dabei wirkt die Vollkasko-Mentalität auf zwei Seiten: Einerseits geht es darum, den (unmündigen) Bürger – oder muss man sagen: Untertanen – vor allen nur irgendwie denkbaren Gefahren zu schützen, und zwar nicht nur der aktuellen, sondern auch aller zukünftigen. Andererseits wollen sich so die Behörden selbst vor Inanspruchnahme bewahren. Wenn ein Algorithmus die Verantwortung trägt (nichts anderes ist eine Regulierung), dann wäscht der das Recht umsetzende bzw. anwendende Staatsangestellte seine Hände in Unschuld.
Die Europäische Union wirkt dabei als Verstärker. Aus den 28 Mitgliederstaaten kommen Regulierungsideen in Hülle und Fülle, die vom Brüsseler Apparat gern aufgenommen werden, um seine Legitimation und seine Macht zu erhöhen. Während andere Länder längst gelernt haben, dass EU-Regeln dazu da sind, möglichst kreativ umgangen oder ganz ausser Acht gelassen zu werden, werden sie in Deutschland mit Begeisterung und buchstabengetreu umgesetzt, manchmal sogar noch etwas strenger als nötig.
Korrekterweise sei hier angemerkt: Auch die Schweiz hat durchaus eine autoritätsgläubige Seite und wäre als Teil der EU sicher ebenfalls ein sehr folgsames Mitglied. Nur ist unser Land von der föderalistischen Struktur und der Grösse her gar nicht in der Lage, eine solche Regulierungslast zu stemmen, was uns zum Pragmatismus und zu Abkürzungen verdammt – zum Glück!
Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch und inside-channels.ch. Foto von Pixabay