Die ICT-Branche sei der grosse Pandemiegewinner, heisst es. Doch es gibt Licht und Schatten.
Wir alle kennen Publizisten und Medien, die aus Prinzip immer gegen die Mehrheitsmeinung anschreiben. Das ist gut für ihr Image, und fürs Marketing sowieso. Da ich nicht für die Weltwoche unterwegs bin, geht es mir in dieser Kolumne um etwas Anderes: Auch wenn als Ganzes die ICT-Branche ökonomisch von Corona eher profitiert als beschädigt wird, so dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass sich die Situation je nach Segment und Ausrichtung sehr unterschiedlich darstellen kann und welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Pandemie hat.
ICT ist ja in der Schweiz vor allem ein B2B-Geschäft. Dabei ist klar, dass es dem ersten “B” nicht gut gehen kann, wenn das zweite “B” darbt: Eine ICT-Firma, die ein ERP für Reisebüros betreibt, eine Plattform für Reisebüros führt, sich auf den IT-Support für Hotels oder auf die Wartung von Hardware für Gross-Events spezialisiert hat, steht gegenwärtig vor einem riesigen Problem und wird fast ebenso leiden wie die Branche, für die sie tätig ist.
Kurzarbeit und Coronakredite sind keine Schande
Deshalb darf es nicht verwundern, dass es auch ICT-Firmen gibt, die Coronakredite in Anspruch nehmen und ihre Mitarbeitenden auf Kurzarbeit setzen. Nicht wegen Misswirtschaft, sondern weil sie schlicht und einfach das Pech haben, für die “falsche” Branche unterwegs zu sein. So viele ICT-Firmen sind das natürlich nicht – und unsere Branche kann über die Zeit unbeschäftigte Leute recht problemlos absorbieren. Es wird allerdings längerfristig die meisten ICT-Firmen treffen. Denn wenn das BIP deutlich sinkt, ergibt sich ein neues, tieferes Ausgangsniveau für das Wirtschaftswachstum, und das wird sich über kurz oder lang auch auf die ICT-Investitionen auswirken.
Vor allem mache ich mir Sorgen, wie nun “Digitalisierung” in der Gesellschaft (ausserhalb unserer Branche) empfunden wird. Von einem Tag auf den anderen wurden Otto und Anna Normalverbraucher aus ihrem mehr oder weniger beschaulichen Leben herausgerissen und unter Berufung auf einen medizinischen Notfall dazu verdammt, das wahre Leben durch ein virtuelles zu ersetzen. Sie ärgern sich über den Einkauf via Internet, weil sie es nicht gewohnt sind, mit der Technik hadern und das Rüebli und die zwei Tomaten zuerst genau betrachten möchten, bevor sie sie in ihr Einkaufskörbli legen. Sie nerven sich im Job ob der endlosen Video-Meetings, bei denen sie immer aufpassen müssen, dass die Familie nicht hinten durchs Bild latscht. Sie hadern mit dem ungewohnten QR-Code, mit dem ihnen die Kontaktdaten im Restaurant abverlangt werden. Ihre Kinder sitzen zuhause und reklamieren den Laptop für sich, angeblich, um Hausaufgaben zu machen, aber natürlich vor allem, um mit Kollegen zu gamen.
Krisengewinnler sollen bluten
Otto und Anna dachten immer, sie seien total digital, weil sie im Beruf mit Word arbeiten, Filme auf Netflix schauen und sich via WhatsApp verabreden. Niemand hat sie darauf vorbereitet und geschult, was Corona alles an digitalen Zumutungen mit sich bringt, und niemand hat Geduld mit ihnen, wenn es nicht auf Anhieb klappt. Sowieso liegen überall die Nerven blank. Natürlich sind Otto und Anna nicht dumm und haben bald geschnallt, wie alles läuft, aber es bleibt doch der persönliche Eindruck, Digitalisierung sei etwas, was in der Krise über einen hereinbricht, einen überfordert, einem dem richtigen Leben entfremdet und so bald wie möglich zu Ende sein sollte, kurzum: Digitalisierung = Katastrophenfall.
Und wenn die ICT-Firmen pauschal als unsympathische Profiteure dieser Situation beschrieben werden, ist es nur ein kurzer Weg, bis man die Krisengewinnler mit “Sondersteuern” zur Kasse bittet, wie bereits auf der politischen Bühne vorgeschlagen wurde.
Noch etwas anderes beschäftigt mich. Was in den letzten Monaten landauf landab passiert ist, ist in vielen Fällen gar keine Digitalisierung. Wer ein Formular statt auf Papier auch als PDF anbietet, digitalisiert nicht, er transponiert lediglich analoge Abläufe auf einen digitalen Kanal.
Das Problem an Corona ist nun, dass die Pandemie so rasch über uns gekommen ist, dass man in den wenigsten Fällen richtig und konsequent digitalisieren konnte. Chancen wurden verpasst, weil es einfach nicht anders ging, es ging darum zu funktionieren und den Betrieb irgendwie am Laufen zu halten. In vielen Betrieben musste man sich deshalb nach der Decke strecken und mit Bordmitteln auskommen.
Im dummen Rank
Vermutlich haben sich viele Firmen und Institutionen im Sommer gedacht: Jetzt warten wir mal ab, bis sich das Virus verzogen hat, dann schauen wir uns an, welche Lehren wir aus dem Ganzen ziehen wollen und wie wir “richtig” digitalisieren. Da kann man nur sagen: Dumm gelaufen. Und es bleibt uns allen nichts anderes übrig, als auf das Ende der zweiten Welle zu warten…
Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch und inside-channels.ch. Foto von CDC bei Unsplash