Phänologie nennt sich die Wissenschaft , die biologische Prozesse während der Jahreszeiten untersucht. Ein internationales Team legt nun Datenreihen zu Blütezeit und Blattaustrieb aus vier Ländern, darunter die Schweiz, vor, die bis ins neunte Jahrhundert zurückreichen. Sie dokumentieren den um bis zu einem Monat früher einsetzenden Austrieb. Die ganz grosse Beschleunigung setzte in den 1980er-Jahren ein.

Kirschgarten in Büren am 3. April 2022: Ein Wintereinbruch mit bis zu 30 Zentimeter Neuschnee und strengem Frost trifft die Kirschbäume in der vollen Blüte.

Seit 812 wird in Kyoto alljährlich der Austrieb der Kirschblüten, in Japan ein grosses kulturelles und gesellschaftliches Fest, dokumentiert. 2021 standen die Kirschbäume am 26. März in voller Blüte. Es war ein neuer Rekord, der die Jahre 1236, 1409 und 1612 noch um einen Tag übertraf. Tatsächlich hat sich laut der japanischen meteorologischen Anstalt die Durchschnittstemperatur im März seit 1953 von 8,6 auf 10,6 Grad erhöht. Das ist nicht nur in Japan der Fall. Auch an den anderen vier Standorten, wo lange Datenreihen zur Blütezeit vorliegen, in England, der Schweiz und China, sind die Durchschnittstemperaturen stark angestiegen. Im Südosten Englands hat eine Familie über Generationen hinweg in den Jahren 1736 bis 1958 den Blattaustrieb von mehreren Laubbäumen dokumentiert, eine Nachbarin notierte sich dazu seit 1950 die ersten Blätter mehrerer Baumarten. In der Schweiz beobachtet der «Grand Conseil de la République» seit 1808 eine Rosskastanie, den «Maronnier de la Treille», im Kanton Baselland sind es wilde Kirschbäume, die seit 1894 beobachtet werden, im Südosten Chinas drei Gehölzarten, deren Vegetationsverlauf seit 1834 beschrieben wird. Diese weltweit längsten Datenreihen erlauben einen einzigartigen Einblick in das phänologische Geschehen. Ein internationales Forschungsteam hat die Daten nun in der Zeitschrift «Nature Climate Change» ausgewertet. Diese dokumentieren einen im Trend nahezu parallelen Temperaturanstieg, der sich seit den 1950er-Jahren und nochmals verstärkt seit Mitte der 1980er-Jahre zeigt. Während der Blatt- und Blütenaustrieb bis ins späte 19. Jahrhundert konstant blieb, setzt im 20. Jahrhundert eine allmähliche, im Alltag kaum spürbare zeitliche Verschiebung ein, die in den vergangenen vier Jahrzehnten sich dramatisch beschleunigt hat. So blühen Kirsch- und Kastanienbäume in der Schweiz heute rund 30 Tage früher als zu Beginn der 1980er-Jahre. In China sind es sechs Tage. Die Folgen liessen sich im Kanton Baselland dieser Tage beobachten. Mitten in die Kirschblütezeit fielen Anfang April bis zu 30 Zentimeter Neuschnee, verbunden mit strengem Frost, der erhebliche Ernteausfälle befürchten lässt. Noch schlimmer traf es die eben verblühten Aprikosen. Diese nicht ungewöhnlichen Spätfröste treffen die Obstbäume nun in ihrer empfindlichsten Phase. Yann Vitasse vom Schweizer Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft WSL sieht in diesen Zeitreihen das perfekte Anschauungsmaterial für den Klimawandel. «Es sind konkrete, anschauliche Zeichen.» Die Phänologie sei deshalb geeignet, sowohl Bevölkerung als auch Politik für die Folgen der Klimaerwärmung zu sensibilisieren.

Die fünf Zeitreihen: c) Blühbeginn der Wildkirschbäume in Liestal, BL (1894–2020), d) Blühbeginn von drei Gehölzarten in China (1834–2020), e) Blattaustrieb-Daten einer Rosskastanie in Genf (1808–2020), f) Blattaustrieb von Stieleiche in Grossbritannien der Marsham-Familie (dunkelorange; 1736–1958) und J. Combes (hellorange; 1950–2020), g) Blühbeginn der Yamazakura-Kirschbäume in Kyoto, Japan (1500-2020). Die linke Achse zeigt den Tag des Jahres an, an dem die Blätter respektive Blüten austrieben. Die grauen dünnen Linien stellen die jährliche Variabilität dar, die dicken Linien sind gleitende 10-Jahres-Durchschnitte.  (Grafik: Yann Vitasse, WSL)