Vor einiger Zeit war ich als Zaungast dabei, als sich das gesamte Team eines Startups zum ersten Mal nach der Lancierung ihres Produkts traf, um den aktuellen Stand und die nächsten Schritte zu besprechen. Es handelt sich um ein SaaS-Angebot (Software as a Service) im B2B-Bereich, und im Team sind mehr als ein Dutzend Nationen vertreten (ja, es hat sogar Schweizer dabei).
Nun, an dieser Vollversammlung wird klar, dass es – wie so oft bei Startups – im Verkauf und im Marketing hapert. Die Kunden stehen offenbar nicht Schlange, um Lizenzen für diese neue, innovative Software zu kaufen. Nervosität macht sich breit, und man diskutiert über alle Hierarchiestufen und Abteilungen hinweg intensiv, was zu tun sei.
Ein junger Programmierer steht auf und schlägt vor, auf Freemium zu setzen. Die Firma solle doch eine abgespeckte Version der Software kostenlos anbieten, damit möglichst viele potenzielle Kunden selbst erfahren, wie toll das Produkt ist. Der Geschäftserfolg sei dann gesichert, wenn nur schon ein kleiner Teil der Gratisnutzer auf die kostenpflichtige Version umsteigt, um den vollen Funktionsumfang zu nutzen. „Wenn das bei Dropbox, WordPress, Mailchimp und Slack funktioniert hat, dann können wir das doch auch!“
Die meisten Anwesenden sind sofort Feuer und Flamme. Sie fordern das Management auf, diesen Weg einzuschlagen, obwohl sich der C-Level gar nicht begeistert zeigt. Plötzlich ist die Stimmung angespannt. Doch zum Glück ist dann die Zeit um und das Abendprogramm lockt, Sushi und Karaoke-Night!
Es war damals weder meine Rolle noch meine Aufgabe, die Problematik zu beleuchten und darauf hinzuweisen, wie riskant und gefährlich dieser Schritt wäre. Und ich wusste, dass das Management erfahren genug war, um sich nicht auf ein solches Abenteuer einzulassen. Aber weil das Thema Freemium auch in etablierten Unternehmen immer wieder herumgeistert, möchte ich hier kurz entwickeln, weshalb in Fällen wie diesem Gratisversionen nicht funktionieren:
Zunächst ist es äusserst schwierig, den Funktionsumfang der Freemium-Version festzulegen. Bietet man zu wenig, lohnt sich der Einstieg für den interessierten Nutzer nicht, bietet man zu viel, kommen die meisten Nutzer mit der kostenlosen Version aus.
B2B-Anwendungen sind in der Regel relativ komplex und richten sich an Spezialisten. Hier kommt ein zweites Dilemma ins Spiel: Ich kann es mir nicht leisten, die Gratis-User zu schulen und zu betreuen, sie müssen selbst herausfinden, wie die Software funktioniert („Self-Onboarding“). Wenn ich sie aber nicht richtig einführen kann, werden sie den Wert der Software nicht erkennen. Bei Slack und Dropbox zum Beispiel stellt sich das Komplexitätsproblem kaum, bei WordPress und Mailchimp schon.
B2B-Anwendungen legen Wert auf ein Qualitätsimage, versprechen ständige Optimierung, tolle UX, exzellenten Kundenservice und einzigartige Features. Wie verträgt sich das mit einer kostenlosen Version des gleichen Produkts?
Einerseits gilt: „Was nichts kostet, ist nichts wert.“ Andererseits versuchen die Nutzer der Gratisversion so lange wie möglich damit auszukommen. Sie freuen sich über die eingesparten Abo-Kosten und verdrängen die Vorteile, die ihnen die kostenpflichtige Version bieten würde. Diese Geiz-ist-geil-Mentalität hat sich in den letzten Jahren auch in der Schweiz stark verbreitet. Die Hürde für die Umstellung auf das Bezahlmodell bleibt also hoch, auch wenn dank der vielen Gratis-User ein gefüllter Funnel zur Verfügung steht.
B2B-Applikationen sind in der Regel auch nicht für die Nutzung durch Einzelanwender gedacht, sondern entfalten ihren Nutzen erst im Unternehmenseinsatz. Dies schliesst eine inoffizielle Nutzung im Rahmen einer Schatten-IT nahezu aus. Damit kommen Fragen des Datenschutzes und der Cybersicherheit ins Spiel. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Software bedarf der Freigabe durch die Geschäftsleitung. Und wer stösst schon diesen Prozess für eine kostenlose Version an?
Da sich der Markt rasant weiterentwickelt, kann auch eine kostenlose Version nicht einfach auf dem aktuellen Stand eingefroren werden, sondern muss ebenfalls weiterentwickelt werden und verursacht auch im Betrieb Kosten: Die kostenlosen 2 GB von Dropbox werden von rund 700 Millionen Menschen genutzt (rechne!), wovon nur knapp 2% zu den zahlenden Kunden gehören.
Ja, Freemium kann ein effektives Marketinginstrument sein, um den Funnel zu füllen und einen qualifizierten Zugang zu potenziellen Käufern zu erhalten. Allerdings können wir in Europa mit unseren eher kleinen Heimatmärkten und den meist im B2B-Bereich tätigen Softwareunternehmen damit kaum punkten. Die Netzwerkeffekte sind zu gering und auch eine Werbefinanzierung ist selten möglich. In der Regel ist es daher deutlich geschickter, ein kostenloses Probeabonnement für einen bestimmten Zeitraum anzubieten.
Es bleibt also dabei, dass das oben erwähnte Unternehmen, bei dem ich als externer Moderator tätig war, wohl oder übel versuchen muss, Marketing und Vertrieb in den Griff zu bekommen, ohne den schnellen, aber potenziell tödlichen Ausweg über Freemium zu gehen.
Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch“ auf inside-it.ch und wurde teilweise mit KI recherchiert und optimiert. Foto von Edwin Hooper auf Unsplash