Zwei Belanglosigkeiten haben es in der Saure-Gurken-Zeit geschafft, nicht nur die sozialen, sondern auch die klassischen Medien zu echauffieren: Der von zwei DJs zusammengeschusterte Sommerschlager „Layla“ wurde von deutschen Stadtverwaltungen als sexistisch beurteilt und auf den Index gesetzt. Die Verwendung des Wortes „Puffmama“ und ein Reim von „Layla“ auf „geiler“ reichten dafür aus. Was danach folgte, war für alle mit Ausnahme der teutonischen Bürokraten absehbar: Der Streisand-Effekt schlug unbarmherzig zu und das Stück eroberte die Hitparade nicht nur in Deutschland, sondern auch hierzulande.

Wenig später wurde in der selbstverwalteten Berner Brasserie Lorraine (kurz „Brass“) ein Konzert abgebrochen, weil die Aufführenden als Weisse Reggae spielten und teilweise erst noch Dreadlocks trugen. Diese Tatsachen hatten nämlich bei einzelnen, sich nicht offen zu erkennen gebenden Gästen offenbar ein Unwohlsein ausgelöst, welches es aus Sicht der Betreiber unmöglich machte, das Konzert fertigzuspielen. Immerhin erhielten so die Twittosphäre und danach das allgemeine Publikum die Gelegenheit, den Begriff der kulturellen Aneignung („cultural appropriation“) zu lernen.

Stellenmarkt im Umbruch

Nachdem sich nun alle, die glauben, etwas dazu zu sagen zu haben, ausgiebig zu diesem Thema selbst geäussert haben, werde ich mich hüten, meine Leserinnen und Leser damit zu bespassen (obwohl es mir natürlich in den Fingern juckt…). Vielmehr geht es mir darum, wie wir in den Firmen damit umgehen, dass immer mehr vor allem junge Leute eine Überempfindlichkeit gegenüber allen Zumutungen der Welt entwickeln, mit welcher Boomer in Leitungsfunktionen (wie ich) kaum mehr klarkommen. In Zeiten des Fachkräftemangels und der generellen Personalknappheit ist dies kein vernachlässigbares Thema. Allerdings möchte ich hier gleich einschränken: Ich spreche vom Bereich der höher qualifizierten Berufe ohne körperlichen Einsatz oder industrielle Fertigung. In der IT-Branche unterschätzen wir vielleicht, wie viele Menschen ausserhalb der Techwelt für uns tätig sind, die nicht einfach nur via Tastatur arbeiten, sondern Kleinkinder betreuen, Toiletten reinigen, Kabel verlegen oder Pakete ausliefern.

Nun, wir von der alten Garde glauben oft an Zeugnisse, Präsenzzeit und Loyalität. Die Bedeutung dieser Werte verändert sich aber gerade massiv, und der Corona-Schock mit Lockdowns und Home-Office-Zwang wirkt als Brandbeschleuniger. Daher gilt es, die Arbeit in den Firmen neu zu denken und zu organisieren.

Zeugnisse, Präsenzzeit und Loyalität out

Dabei kommt dem Anstellungsprozess eine entscheidende Rolle zu. Wenn ich zwischen zwei Personen wählen soll, welche grundsätzlich die notwendigen Skills für eine Stelle erfüllen, werde ich nicht diejenige mit dem besseren Zeugnis wählen, sondern diejenige, die Pfadiführerin war – oder vielleicht noch ist (um grad ein in diesem Sommer aktuelles Beispiel zu bringen). Die ausserberuflichen Aktivitäten verraten sehr viel über das Engagement, die Resilienz und das Engagement eines Menschen. Dies wird heute leider in den herkömmlichen HR-Prozessen noch oft völlig ausgeklammert.

Bei der Präsenzzeit müssen wir ebenfalls umdenken. Die Dauer der am Arbeitsplatz verbrachten Zeit ist für die Produktivität immer irrelevanter, nicht bei der Migros-Kassiererin, aber bei den Berufen, um die es hier geht. Es muss andere Wege geben, um die Arbeitsleistung zu bemessen. Die agilen Entwicklungsmethoden mit ihren klar definierten Sprints sind zum Beispiel ein Weg, um aus dieser Zeitfalle zu kommen. Es ist mir vollkommen egal, wann, wo und wie lange gearbeitet wird, aber in zwei Wochen muss das Ergebnis da sein. Wer es nicht packt, muss mit der Zeit seine Sachen packen. Diejenige Präsenzzeit, die unbedingt eingefordert werden muss, ist diejenige, die dem persönlichen Austausch und der Teamentwicklung gewidmet wird. Alles andere ist verzichtbar, wenn ich andere Metriken einsetzen kann.

Auch davon, dass Vollzeit das Mass aller Dinge sei, sollte man sich schleunigst verabschieden. Zwar wird es unter 60% vielfach bei Stabs- und Führungsfunktionen oder aus Gründen der Infrastruktur schwierig, aber alles darüber muss möglich sein – bei oft noch höherer Produktivität als bei 100%. Und ja, mit Minimalisten wird es dabei mühsam, aber dies gilt unbeachtet des Pensums.

Früher bestand oft ein impliziter Deal: Der Angestellte richtet seine persönliche Entwicklung (und die seiner Familie) nach den Bedürfnissen des Unternehmens aus. Im Gegenzug bietet das Unternehmen dem Mitarbeitenden eine mehr oder weniger lebenslange Laufbahnentwicklung mit regelmässigen Verbesserungen (Funktion, Lohn, Bonus). Zu einem Langzeit-Commitment sind jedoch Firmen in einer sich sehr rasch verändernden Welt nicht mehr in der Lage. Deshalb ist es auch logisch, dass Mitarbeitende sich primär nach ihren eigenen Interessen richten und ihr eigenes Leben optimieren, mit oder ohne Arbeitgeber. Wenn ich als Arbeitgeber diese Interessen kenne und sogar noch fördern kann, dann kann ich immerhin eine längere Anstellungsdauer erwarten.

Wo bleibt der Sinn?

Wer heute als Arbeitgeber punkten will, muss einen neuen Begriff in den Mittelpunkt seiner Personalpolitik stellen: Sinnhaftigkeit (neudeutsch: Purpose). Leider wird mit diesem Wort heute viel Unfug betrieben: Purpose ist heute zur Marketing- und HR-Platitüde verkommen. Hätte die kalabresische Mafia eine Website, so würde auch sie dort stolz ein Statement zu ihrem Purpose formulieren. Dabei geht es eigentlich um etwas ganz Einfaches: Eine Arbeit leistet einen positiven Beitrag zum Leben von anderen Menschen und schädigt niemanden. Wer immer eine Stelle ausschreibt, sollte sich daher überlegen, wie er die Sinnhaftigkeit des Jobs umschreiben und vermitteln kann. In der Stellenanzeige, im Bewerbungsverfahren und natürlich im Job selbst. Und nur solche Leute anstellen, die in der Stelle diesen Purpose sehen und leben wollen.

Das heisst nicht, dass es nur noch für „woke“ Berufe eine Zukunft gibt. Denn Sinnhaftigkeit ist etwas höchst Individuelles, das von Mensch zu Mensch stark variiert. Die meisten sehen vermutlich den Sinn, den es gibt, in den Slums von Kalkutta Arme zu speisen. Aber es gibt auch Leute, welche durchaus auch den Purpose sehen, für Smith&Wesson tätig zu sein. Man muss sie nur finden.

Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch und inside-channels.ch. Foto von Anna Shvets für Pexcels.com