Eine zweieinhalbfache Drehung um die vertikale Körperachse, kumuliert ergibt das 900 Grad. Das Ganze in der Luft. Auf einem Skateboard. Bis dato gilt der «9er» als der Trick schlechthin, als Zenit des Skateboardings. Die magische Neun wurde in einem Jahr geknackt, dass sinnbildlicher nicht sein könnte: 1999.
Die populären X-Games, seit jeher Mekka der Actionsports-Gemeinde, fanden im letzten Jahr des Millenniums in San Francisco statt. Mit dabei auch Tony Hawk, der schon damals eine Skateboardlegende war. Seit den 80er-Jahren gewann er beinahe alles, was es zu gewinnen gibt, erfand mehrere Tricks und war in der Halfpipe das Nonplusultra. Der Wettbewerb war sein letzter Auftritt als Profi, Grund genug für ihn, eine fulminante Show zu bieten und mit einem Knall die Bühne zu verlassen
Das erklärte Ziel: Als erster Mensch auf einem Skateboard den 900er zu stehen. Nach etlichen Fehlschlägen verloren das Publikum, der Kommentator und die zahlreichen Skater auf der Pipe langsam aber sicher die Zuversicht, dass der Trick tatsächlich an dem Tag noch gestanden wird. Doch Tony Hawk wäre nicht Tony Hawk, wenn er sich nicht nach jedem weiteren Versagen wieder aufgerappelt hätte, um einen weiteren Versuch zu starten. Und tatsächlich: Er stand den 900er an besagtem Tag.
Alle Anwesenden flippten aus, die Skateboardwelt stand Kopf, Tony Hawk war soeben in neue Sphären vorgestossen. Bis heute gibt es nur 14 Menschen, die eine zweieinhalbfache Drehung gelandet haben und nur einen elfjährigen Jungen, der noch einen draufsetzte und einen 1080 in der Halfpipe schaffte.
Bretter, die die Welt bedeuten
Skateboarding war bereits seit den 70ern ein «Sport» und seit den Kindheitstagen gibt es Meisterschaften und Profis. Es waren jedoch die 90er, in denen die globale Skatemanie ausbrach. Immer spektakulärere Tricks; mehr Marken und Sponsoren, die massiven, finanziellen Aufwand betrieben und nicht zuletzt das Interesse der Medien sorgten dafür, dass Skateboarding weit über die Grenzen lokaler Gruppen hinausgetragen wurde.
Die Sonnenseite davon: Es war möglich, Tony Hawk einen 900er stehen zu sehen, die Schattenseite: Totale Kontrolle. So auch bei mir. Mitte der 90er fing ich an zu skaten. Mit meinem besten Kumpel ging ich alsbald mehr oder weniger regelmässig auf die Strasse, um zu «shredden». Dass Tony Hawk dabei eine unglaublich wichtige Rolle spielte, sollte mir erst später bewusst werden. Um das zu erklären, braucht es einen kleinen Ausflug in die digitale Welt.
Joysticks und Skatedecks
Es waren diese X-Games mit dem nun schon so oft beschriebenen Über-Trick, die den endgültigen Funken schlugen und in mir das Skateboard-Feuer entfachten. Allerdings gab es damals noch eine weitere Komponente, die unmissverständlich zu meiner Jugend gehörte.
Tony Hawk ist nicht nur ein begnadeter Skater, sondern auch ein grandioser Geschäftsmann. So erkannte er früh, dass im Gamemarkt viel Potential steckte. Eigene Versuche, eine Franchise zu starten, scheiterten. Publisher lehnten seine Ideen konsequent ab, es sei kein Markt dafür vorhanden. Sie sollten alle Unrecht haben.
Nach langem hin und her und einem Quäntchen Glück fanden sich Neversoft und Hawk. Erstere hatten einen Deal mit Activision abgeschlossen, um das Spiel Apocalypse für die Play Station rauszubringen. Neversoft war damals ein bloss 15-köpfiges Team und kam mit einer ulkigen Beta eines Skateboardspiels, in welcher der Charakter noch aus Apocalypse stammte, an Tony Hawk heran. Der Deal kam zustande, Neversoft rührte eine gelungene Marketingkampagne an und Hawk sorgte dafür, dass jeder Zwischenrelease bis zum finalen Produkt erst über seinen Schreibtisch ging, damit die Sache auch wirklich authentisch rüberkam.
Das finale Game war ein riesiger Erfolg. Es kam 1999 für die Play Station auf den Markt. Nintendo 64-, Dreamcast-, Gameboy- und N-Gage-Versionen folgten später. Tony Hawk’s Pro Skater oder in unseren Breitengraden Tony Hawk’s Skateboarding räumte traumhafte Wertungen ab und verkaufte sich allein in den USA über drei Millionen mal. Die Serie wurde durch etliche weitere Ableger ergänzt und mauserte sich zu einer wahren Cash Cow. Doch was machte dieses Spiel so populär? War es das perfekt ausgefeilte Gameplay oder der grandiose Soundtrack? Ja, die Antwort ist aber um einiges komplexer.
Feuer und Flamme und Ollies
Zurück in die Realität: Skateboarding auf dem medialen Zenit, Tony Hawk ein Idol einer ganzen Generation, Gaming wird grossflächig massentauglich – und mittendrin ich. Das Feuer brannte nach den X-Games, aber es war eher ein Schwelbrand, nichts spektakuläres. Was fehlte, war der Brandbeschleuniger, der die Flammen entfachte und alles lichterloh niederbrannte. Dieses Mittel war Tony Hawk’s Pro Skater.
Das erste Mal spielte ich es auf der Play Station bei einem Freund, später kaufte ich es mir am Releasetag für den N64. Es gab bis dato kein Spiel, das ich exzessiver gezockt hatte. Es gingen Stunden, Tage, Wochen drauf. Die perfekte Balance zwischen lässigem Arcade und pickelharter Herausforderung war und ist noch immer unschlagbar. Doch viel wichtiger war etwas anderes: Die Identifikation mit dem Game.
Tony Hawk’s Skateboarding bestätigte mir, dass ich ein Skater bin. All die Helden von damals, die Tricks, die wir täglich auf dem Schulhof übten, die alternative Musik, alles was mein jugendliches Leben prägte, war verpackt in ein paar Megabytes auf einer Cartridge.
Ungelogen war ich so fasziniert von dem Spiel, dass ich mir sogar ein Pro-Model Skatedeck von Tony Hawk kaufte. Ich wollte mit meinem besten Freund den Profis nacheifern. Wir gingen komplett in der Skateboardwelt auf, zogen uns etliche Videos auf VHS-Kassetten rein, fühlten den rebellischen Grundton dieses Lifestyles und waren jede freie Minute auf dem Brett. Das alles hätte ich vielleicht auch ohne besagtes Game gemacht, aber sicherlich längst nicht so fanatisch.
War ich ein Freak? Alles nur jugendlicher Leichtsinn? Kaum, denn auch heute, rund 20 Jahre später, bin ich ein Skater. Ich bin schon ewig nicht mehr auf einem Holzbrett gestanden, aber irgendwie ist das Skateboarden etwas, das man nicht einfach nur macht, man ist es im Herzen, man lebt es – und zwar für immer. Die Attitüde, das Lockere, das vielleicht auch etwas Aufsässige, das alles zeichnet mich nach wie vor aus. Das Skateboarden hat mich definiert und Tony Hawk's Pro Skater übernahm den Feinschliff.
Persönlicher Hinweis:
Dieser Text entstant vor einigen Jahren im Rahmen der Mitarbeit am ehemaligen Gamejournalismus-Projekt Combobreaker.ch. Leider hat der Artikel nie das Licht der digitalen Welt erblickt - die Plattform ging vorher vom Netz. Allerdings bin ich in Hinblick auf den bevorstehenden Release der Remakes der beiden ersten Tony Hawk-Spiele wieder auf ihn aufmerksam geworden. Kleine Teile des Textes und Fakten wurden für diese Publikation aktualisiert.