Mehrere Staaten wollen TikTok verbieten oder haben es bereits getan. Die Video-App aus China, die vor allem bei jüngerem Publikum populär ist, gerät vermehrt in den Würgegriff politischer Akteure. Wieso ist das so und warum kommen andere Social Media-Unternehmen mit ebenfalls fragwürdigen Praktiken teilweise ungeschoren davon? Der Versuch einer Analyse.

TikTok ist über die Hype-Phase längst hinweg. Seit die App im August 2018 lanciert wurde und aus der Asche von musical.ly emporstieg, dauerte es keine zwei Jahre, bis sie über zwei Milliarden Mal heruntergeladen wurde. Über 800 Millionen Nutzer, mehrheitlich aus der Generation Z und aus China, sind auf der Plattform registriert und teilen munter mehr oder weniger kreative Kurzvideos.

Die Belanglosigkeit dieser Inhalte mag subjektiv sein – TikTok dient in erster Linie der Unterhaltung, qualitativ hochwertige Inhalte gehen indes in teils äusserst fragwürdigen Hashtag-Herausforderungen unter. Letztere sind denn auch diejenigen, die es ans Licht der Öffentlichkeit schaffen und die Aufmerksamkeit der Medien und somit der Bevölkerung weckt. Wenn sich junge Menschen als übel verprügelt ablichten lassen oder sich geschmacklos als Holocaust-Opfer inszenieren, dann hat TikTok bei gesellschaftlichen Entscheidungsträgern teils zu Recht eine negative Konnotation.

Schlechte Ausgangslage

Aber auch ByteDance, der Mutterkonzern TikToks, tritt regelmässig ins Fettnäpfchen. Zensur, vor allem bei brisanten, chinarelevanten Themen wie dem Tiananmen-Massaker, der Unabhängigkeit Tibets und den Protesten in Hong Kong, war und ist vielen ein Dorn im Auge. Aber auch Bodyshaming und homophobische Züge führen immer wieder zu Diskussionen. Der Übeltäter ist dabei rasch gefunden: China selbst respektive die totale Überwachung durch den Staat. Dies wiederum ruft Regierungen im Ausland auf den Plan. Plötzlich steht TikTok auf der Politagenda mehrerer Länder.

TikTok krempelt die Social Media-Welt um.

Indien hat die App seit längerem verboten. Ausschlaggebend dafür sind ganz unterschiedliche Gründe. Und nun schwappt der Konfrontationskurs gegenüber TikTok auch auf den Westen über. Die USA unter Donald Trump wollen das Social Media-Netzwerk verbieten, die Niederlande wollen nachziehen. In beiden Fällen sind Bedenken zur Datensicherheit die Hauptargumente, wobei Trump durchaus zumutbar ist, dass es sich um eine persönliche Fede gegenüber China handelt.

Dass die chinesische Regierung ihr Volk systematisch bis ins tiefe Privatleben kontrolliert, ist kein Geheimnis. Davon kann auch Pascal Nufer, ehemaliger SRF-Korrespondent in Shanghai, ein Liedchen singen. Die Angst geht um, dass TikTok zur regierungsgesteuerten Datenkrake mutiert oder dies bereits schon längstens ist.

Die Kritik an Chinas System ist berechtigt, die Befürchtungen anderer Nationen ebenfalls. Dass letztere sich dem Schutz ihrer Mitmenschen verpflichtet fühlen, ist verständlich – auch wenn es dabei ein Phänomen zu sein scheint, dass eine vermeintlich harmlose Social Media-Plattform ins Kreuzfeuer genommen wird.

Der blaue Riese

Auf der Gegenseite des jungen, wilden TikToks steht die alte Dame der Social Media-Welt: Facebook. Das gigantische Unternehmen schaffte den weltweiten Durchbruch 2008. Es war nicht das erste Social Media-Netzwerk, aber es hat das Untereinander-Verknüpfen und -Austauschen definitiv salonfähig gemacht. Mittlerweile hat sich der Konzern mit Instagram sowie Whatsapp (und anderen) weitere grosse Player unter den Nagel gerissen.

Facebook ist der unangefochtene Social Media-Gigant schlechthin.

Facebook ist mächtig. 2,7 Milliarden Menschen nutzen die Dienste des Konzerns. Im letzten Jahr verbuchte das Unternehmen einen Umsatz von rund 70 Milliarden US-Dollar – er steigt jedes Jahr um etliche Milliarden an. Und auch die Skandale, die Facebook immer wieder ans Tageslicht fördert, gehören der Superlative an. Gerade in Hinsicht auf den Datenschutz steht Facebook seinem Konkurrenten aus China in nichts nach. Auch die politische Tragweite dieser Skandale ist verheerend; so wurde die Präsidentschaftswahl von Donald Trump und die Brexitabstimmung teils frappierend beeinflusst. Das Big Data-Unternehmen Cambridge Analytica sammelte hierzu wertvolle Userdaten – ohne deren Einverständnis – die zur manipulativen politischen Kampagnenführung beitrugen. Facebook wurde gerügt, zu Klagen verdonnert, Mark Zuckerberg musste vor dem Senat aussagen. Selbst inhaltlich fährt Facebook in teils sehr trübem Wasser: Fake News und Hetze sind dabei lediglich die Spitze des Eisbergs. Und dennoch ist es TikTok, das rigoros und vehement von Regierungen bekämpft wird.

Warum ist das so? Ein erster Gedanke könnte sein, dass Facebook ein grosser und wichtiger Arbeitgeber ist. Rund 50'000 Menschen sind bei dem digitalen Riesen weltweit beschäftigt. Mehrere Standorte in den USA und Niederlassungen rund um den Globus – auch in Europa, zum Beispiel in Dublin – kurbeln die Wirtschaft an. Zudem ist Facebook an der Börse kotiert. Auf den zweiten Blick braucht sich das vermeintlich kleine TikTok jedoch nicht zu verstecken. Auch ByteDance betreibt Niederlassungen auf der ganzen Welt. So unter anderen im Berlin. A propos Berlin: Facebook ist dort ebenfalls vertreten. Mit einem Büro, das dezidiert für politische Kampagnen – oder anders ausgedrückt Lobbying – zuständig ist.

Drei Dinge erklären jedoch in gewisser Art und Weise auf den Frontalangriff auf TikTok: Abneigung, Neid und Misstrauen.

Kampf an allen Fronten

Abneigung daher, weil die eingangs erwähnten Entscheidungsträger keine Relation zu TikTok herstellen können. 40 Prozent der User sind unter 24 Jahre alt. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen visuellen Stilmittel, ihren eigenen Medienkonsum und nicht zuletzt ihre eigene Vorstellung davon, was relevant ist und was nicht. Die Schere klafft hier bereits zu den Millennials stark auseinander. Ältere Generationen trifft es noch stärker. Trotzdem sind diejenigen Menschen, die TikTok nicht nutzen – und eben in vielerlei Hinsicht Entscheidungen auf wirtschaftlicher oder politischer Ebene treffen – keineswegs verlegen, ein Urteil darüber zu Fällen; auch wenn sie die App nicht verstehen. Und diese Urteile fallen in der Regel negativ aus, eben gerade weil TikTok nicht verstanden wird.

Die Jugend verblöde, sie gehe achtlos mit ihren Daten um und sie würden sich gegenseitig zu Dummheiten, ja gar Mobbing, anstiften. Nährboden Nummer eins, dass es soweit kommt, TikTok verbieten zu wollen. Bei Facebook sieht es anders aus, das wird schliesslich von älteren Generationen genutzt. Dass dessen Inhalte und Unternehmensphilosophie keinen Deut besser als bei TikTok sind, macht keinen Unterschied. Dies wird – vielleicht mit einem blinden Auge – absurderweise hingenommen, weil Facebook eben nichts Fremdes ist. An dieser Stelle übrigens: Instagram eilte zu Anfangszeiten der gleiche Ruf wie TikTok voraus. Bis es Mainstream wurde und somit an Akzeptanz gewann.

China will im internationalen Social Media-Zirkus mitspielen.

Neid daher, weil TikTok ein Phänomen ist. Keine andere App verzeichnete derartige Download- und Wachstumszahlen. Quantitativ ist das Ganze ein Überflieger. Aber auch qualitativ ist TikTok verblüffend. Klar, es gab früher Vine, aber die Videos sind schon etwas Spezielles. Der ganze Konsum von Inhalten ist mit TikTok einfach anders. Die ganz Grossen beissen sich die Zähne daran aus. Nicht einmal gescheite Kopien der Tech Giganten können Fuss fassen. Facebook hat Lasso, Google liebäugelt mit der Akquise von Firework. Alles Kopien von TikTok – und keine davon kommt so richtig vom Fleck.

Gerade das erfolgsverwöhnte Facebook, das sich Snapchat vom Leibe hielt, indem es deren Story-Feature in Instagram integrierte und damit enorm erfolgreich war, sitzt in der Erfolgsgeschichte um die Content-Art von TikTok in der zweiten Reihe. Konkurrenz belebt den Markt, aber in der Digitalwelt wird der Markt von einigen wenigen Riesen beherrscht. Es hat hier keinen Platz für irgendwelche Exoten, die aus dem Nichts auftauchen und disruptiv alles durcheinanderschütteln. Absurderweise scheint zwar genau das ein Credo der Silicon Valley-Firmen zu sein, siehe Airbnb oder Uber. Aber diese haben bestehende Systeme ausserhalb der digitalen Blase umgekrempelt. TikTok prescht in eine von Grund auf digitale Welt vor, sucht sich seine Nische und wird immer grösser. Das wird nicht geduldet. Nährboden Nummer zwei, dass es soweit kommt, TikTok verbieten zu wollen.

Misstrauen daher, weil TikTok aus China kommt. Wie erwähnt gibt es viele und gute Gründe, der Regierung Chinas gegenüber skeptisch zu sein. Vor allem ihr Eingreifen in sämtliche Strukturen von der Wirtschaft bis zur Privatsphäre ist etwas, das verwerflich ist – zumindest aus der Sicht westlich orientierter Demokratien. China wird zum Feindbild stigmatisiert. Der ganz grosse Aufhänger ist dabei der Datenschutz.

Die Angst geht um, dass sich der chinesische Staat als Datenkrake sämtliche Aktivitäten der TikTok-User einverleibt und damit Kontrolle über unser Leben ausübt. Viel schlimmer noch, dass das Reich der Mitte damit effizient und klangheimlich Einfluss auf politische Abstimmungen und Wahlen oder Wirtschaftsentscheide in aller Welt ausüben kann. Kurzum: TikTok ist der Schlüssel, demokratische Werte und Liberalität zu untergraben. Nährboden Nummer drei, dass es soweit kommt, TikTok verbieten zu wollen.

Spätestens an dieser Stelle sollte ein Lichtlein aufgehen: Facebook hat all diese Einflussnahmen bereits hinter sich. Im globalen Stil. Kaum etwas ist passiert.

 

Fotos von Kon Karampelas und chuttersnap, gefunden auf Unsplash.