Die Plattform Twitter steht unter Dauerfeuer, und in den letzten Monaten gab es besonders viel zu kritisieren: Die feindliche Übernahme durch einen der umstrittensten Unternehmer der Welt, desaströse finanzielle Ergebnisse, chaotische Entlassungswellen (gefolgt von Wiedereinstellungen), politische Manipulationen des Algorithmus, Boykott durch Inserenten und den Vorwurf, Hatespeech ungezügelt zuzulassen. Kein Wunder, wurde immer wieder versucht, alternative Plattformen aufzubauen, interessanterweise von beiden Seiten des politischen Spektrums. Ihnen ist allerdings gemeinsam, dass sie bislang gescheitert sind.
Es gibt nur ein Twitter: Niemand, der in Politik und Medien unterwegs ist, kommt heute daran vorbei, dort präsent zu sein. Dabei reicht es nicht, passiv Themen, Personen und Institutionen zu verfolgen, an denen man interessiert ist. Nein, man muss auch Wege finden, wahrgenommen zu werden.
Als jemand, der dort schon seit fast anderthalb Jahrzehnten mit ein paar tausend Followern aktiv unterwegs ist, werde ich regelmässig von Newcomern gefragt, was man unternehmen soll, um vom verschämt passiven Beobachter ohne Follower zum vollwertigen Mitglied der Community mit ansehnlicher Fanbase zu mutieren. Faul wie ich bin, habe ich meine Empfehlungen in diese Kolumne verpackt, damit ich in Zukunft einfach einen Link verschicken kann, statt mir immer wieder neu den Mund fusselig zu reden.
Der Weg zum Erfolg
Viele meinen, man müsse etwas vom Thema verstehen, über das man twittert. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Zu viel Wissen führt dazu, dass man für sein Publikum zu wenig verständlich und zu differenziert formuliert. Wer mit beschränkter Aufmerksamkeit durch die Tweets surft, will nicht dröge Abgewogenheit, sondern ein schnörkellos prägnantes Statement. Da hemmt zu viel Know-how des Verfassers über die Sache nur.
Wenig zu wissen ermöglicht auch mehr Emotion – und diese ist gefragt, vor allem negative: Entsetzen, Erschütterung, Empörung, Skandal, Abgründe, Verschwörung sind dafür gute Begriffe. Wobei Substantive nicht reichen. Besser sind Adjektive, weil man die steigern kann. Und unter dem Superlativ ist es kaum je getan. Falls das nicht reicht, können Grossbuchstaben die Aussage weiter verstärken. „Der Tweet von @XYZ ist das absolutest PERVERSESTE, was ich je gelesen habe!!!“
Sprachpuristen mögen sich an solchen Formulierungen und Schriftbildern stören, aber solche Menschen haben bei Twitter sowieso nichts zu suchen. Orthografie kann kein Grund sein, mit der eigenen Meinung hinter den Berg zu halten. Im Gegenteil, ein gewisser Anteil an Fehlern und Vertippern zeigt doch auf, dass man authentisch ist und den Inhalt über die Form stellt. Oder, wie ich es für einen Tweet formulieren würde: Rechtschreibung ist für totale Schwächlinge.
Zu einem kraftvollen Vokabular gehört auch ein gutes Sortiment an Schimpfwörtern, die hier allerdings nicht im Detail wiedergegeben werden sollen. Aber wir alle wissen: Das Tierreich und der Verdauungstrakt stellen einen grossen Vorrat an Vokabeln zur Charakterisierung anderer Menschen zur Verfügung.
Natürlich holen Sie sich ihre Inspiration für ihre Tweets von anderen Mitgliedern der Community. Wenn Ihnen ein Tweet gefällt, reagieren Sie auf keinen Fall darauf mit einer Reply oder einem Retweet: Sie wollen ja nicht via Algorithmus ihre eigene Konkurrenz hochpäppeln. Übernehmen Sie einfach den Inhalt und twittern ihn unter dem eigenen Namen. Denn bei Twitter gilt auch: Urheberrecht ist für Loser.
Doch irgendwann kommt der Moment, in welchem Sie auf den Tweet eines anderen mit einer Reply reagieren wollen, weil sie dessen Inhalt oder Absender als untragbar hassenswert empfinden. Dies kommt deshalb öfter vor, weil Sie standardmässig davon ausgehen, dass Tweets aus den niedrigsten Beweggründen von den verabscheuungswürdigsten Menschen verfasst werden.
Und nun nur keine falschen Hemmungen. Sie müssen alles aus dem Weg räumen, was Sie daran hindern könnte, aus den Tiefen ihrer Gefühlswelt zu schöpfen. In solchen Fällen können ein, zwei Gin Tonic Wunder wirken, am besten im Verhältnis 1:1 gemischt.
Andererseits ist es auch wichtig, möglichst rasch zu antworten. Erstens wartet die ganze Twittosphere gespannt auf ihren genialen Gegenschlag, und zweitens hemmt zu viel Nachdenken ihre Spontaneität. Dies führt allerdings dazu, dass Sie die zwei Gin Tonic relativ rasch trinken müssen. Das ist der Preis, der zu bezahlen ist, um sich hohe Beachtung im Netz zu sichern.
Und ich garantiere: Wenn Sie diese paar einfachen Regeln beherzigen, werden Sie sich in der Community in kurzer Zeit eine solide Reputation aufbauen. Sie können aber auch das absolute Gegenteil davon machen, dann werden Sie noch erfolgreicher!
Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch. Foto von Souvik Banerjee auf Unsplash