Eine Buchrezension von Jean-Marc Hensch

Mit «A Big History of Globalization” bringt ein interdisziplinäres Autorenteam den Big-History-Ansatz in die Diskussion um die Globalisierung ein. Dabei geht es nicht primär um neue Fakten, sondern vor allem um eine neue Perspektive.

Traditionelle Geschichtsschreibung setzt frühestens dort ein, als der Mensch beginnt, die Erde zu bevölkern. Doch das Universum existiert schon rund 100'000 Mal länger, nämlich rund 14 Milliarden Jahre. Und so stellt sich die Frage, ob wir aus der Analyse der «Vorgeschichte» Erkenntnisse für die Interpretation unserer eigenen Geschichte gewinnen können. Dieser Meinung ist ein neuer Zweig der Geschichtswissenschaft, die unter der Bezeichnung Big History segelt. «Big» ist hier also nicht als grossartig, sondern als von grosser Dauer zu verstehen.

Der Urknall als Ausganspunkt

Um Geschichte als Big History wirklich verstehen zu können, so lautet die These, muss man mit dem Big Bang vor 13.8 Milliarden Jahren beginnen. Die zeitliche Perspektive ist damit deutlich gestreckter als bei traditioneller Geschichtsschreibung. Die Menschheitsgeschichte ist nichts anderes als die Fortsetzung der Evolutionsbiologie auf höherer Stufe.

Damit ist klar, dass geschichtswissenschaftliche Mittel allein nicht ausreichen, um den grössten Teil dieser Zeitperiode zu behandeln. Kosmologie, Astrophysik, Chemie, Biologie und weitere Naturwissenschaften ergänzen da die Sozialwissenschaften. Es handelt sich somit um einen interdisziplinären Ansatz.

Ein wichtiger Wegbereiter für Big History war der Wissenschafter und Schriftsteller Carl Sagan. Dieser hat ab den achtziger Jahren mit Bestsellern und Fernsehserien in den USA den Zusammenhang zwischen Mensch und Kosmos ausgeleuchtet und Astrophysik und Kosmologie popularisiert hat.

Auch bei Big History ist es explizites Ziel, durch die Form der Darstellung Laien und insbesondere Schülerinnen und Schüler für Geschichte zu begeistern und ihnen einen einfacheren Zugang zu ermöglichen. Im Gegensatz zu traditionellen, oft für Laien hermetischen Disziplinen der Geschichtswissenschaft hat Big History eine ausgesprochen didaktische und pädagogische Zielsetzung, die sich auch stark audiovisueller Mittel bedient.

Ein kleiner Umweg über die Evolutionsbiologie

Das Konzept der Big History stammt vom Historiker David Christian, der 1989 an der Macquarie University in Sydney erstmals eine entsprechende Vorlesung hielt. Er formuliert die Grundfrage wie folgt: «Als extrem komplexe Kreaturen müssen wir Menschen doch herausfinden, unter welchen Bedingungen das Universum überhaupt Komplexität entstehen lässt.» Die Bildung von komplexen Strukturen widerspricht jedoch dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, welcher vereinfacht besagt, dass spontane Prozesse in einem geschlossenen System immer zur Unordnung streben – also zum Abbau von Komplexität. Komplexe Systeme, wie z.B. der Mensch, können nur entstehen, wenn zufällige Mutationen stattfinden können. Wenn eine solche dann zufällig auf optimale äussere Bedingungen stösst, kann sie sich auf einer höheren Komplexitätsstufe stabilisieren und als neuen Standard durchsetzen.

Autorenteam um den Erfinder von Big History am Werk

Dieser David Christian ist einer der Co-Autoren des Werks “A Big History of Globalization – The Emergence of a Global World System”, das 2019 auf Englisch erschienen ist. Dabei handelt es sich allerdings nicht um leichte Kost für Schüler, sondern um einen Beitrag zur seit Jahrzehnten intensiv geführten Diskussion um die «Grosse Divergenz» und die Globalisierung. Statt Youtube-Filme zu konsumieren gilt es hier, sich mit Zahlentabellen und Grafiken auseinanderzusetzen. Die sieben Co-Autoren des Werks neben David Christian sind allesamt an verschiedenen Fakultäten und Instituten von Moskauer Universitäten tätig und bringen einen breiten Fächer an sozial- und naturwissenschaftlichen Kompetenzen ein.

Die Originalität des Werkes liegt wohl weniger in der Präsentation neuer Fakten oder der grundlegenden Neuinterpretation wichtiger Entwicklungen. Hingegen schafft es die Einbindung der Menschheitsgeschichte in eine Struktur, die sich in die Geschichte des Universums einbetten lässt. Es beschreibt die Geschichte des Universums ab dem Big Bang, konzentriert sich aber auf die Globalisierung und somit auf die zweite Hälfte des letzten Jahrtausends.

Entwicklung wird dabei in Anlehnung an die Evolutionsbiologie als Erklimmen neuer Komplexitätsstufen verstanden. Entwicklung findet somit immer in Wellen statt, bei der zwischen Konsolidierung und Evolutionsschritt abgewechselt wird.

Erste Globalisierungsansätze werden aufgrund der urbanen Revolution schon in den Jahren 3'500 – 2'500 vor Christus vorgefunden. Damals entsteht ein Netzwerk von Städten in der Region zwischen den heutigen Ägypten und Pakistan. Städte sind in dieser Zeit nur im Austausch untereinander und mit ihrem jeweiligen Umland lebensfähig.

Eigentliche Globalisierung beginnt im 16. Jahrhundert.

Der Beginn der eigentlichen Globalisierung wird mit dem Jahr 1571 datiert. Zu diesem Zeitpunkt eröffnen die Spanier in Manila einen Handelsstützpunkt. Ab diesem Zeitpunkt wird Silber aus den Amerikas via Acapulco und Manila nach Ostasien transportiert. Dies ermöglicht erstmals eine Einheitswährung, die rund um den ganzen Globus gehandelt wird.

Das Werk betrachtet die Menschheit von Anfang an als Welt-System, das zwar mit den Amerikas lange einen abgekoppelten Teil aufweist, aber nach 1500 aufgrund des Kolumbus-Effekts rapide zusammenwächst – auch bezüglich Fauna, Landwirtschaft und Epidemien. Die «Grosse Divergenz» wird nicht primär als Gegensatz von Ost und West im 19. Jahrhundert verortet, sondern erscheint hier als kleine Divergenz im Vergleich zum massiven Nord-Süd-Gefälle, das im 18. Jahrhundert entsteht.

Das Werk schildert die technologische Entwicklung ausführlich, betont aber die Bedeutung stabiler staatlicher Institutionen besonders: Bürokratischer Verfassungsstaat, politische Parteien, sozialstaatliche Schutzmechanismen und leistungsfähiges Bildungssystem seien hier als zentrale Stichworte genannt. Auf wirtschaftlicher Seite wird die Herausbildung eines weltweiten Kapitelmarktes mit Goldstandard als entscheidender Globalisierungsschritt beurteilt.

Kritische Würdigung

Das Denken primär in physikalisch definierten Grössen, Schwellen und Zyklen birgt die Gefahr, in ökonomischen Determinismus zu verfallen, wonach sich die Geschichte quasi zwangsläufig nur auf eine einzig mögliche Art fortentwickeln kann. Dieser Eindruck entsteht beim Lesen allerdings nicht, da eine Fülle von Daten aus verschiedenen Disziplinen herangezogen werden, welche klar werden lassen, dass der Entwicklungspfad nicht vorbestimmt ist, sondern sich aus vielfältigen Mutationen eher zufällig ergibt. Es wird auch nicht negiert, dass es manchmal herausragende Persönlichkeiten und Gruppen braucht, um die «Goldilocks conditions» zu nutzen und eine Schwelle zu überspringen.

Bei stark konzeptionell geprägten Werken ist immer auch die Frage zu stellen, wie sehr die wie auch immer geartete Realität in ein starres Schema gepresst wird. Die Fülle der analysierten Daten und die zahlreichen Querbezüge sprechen allerdings nicht dafür, dass übermässig geschraubt wurde.

Implizit wenden sich das Werk und wohl die ganze Buchreihe gegen neo-liberale, westlich zentrierte Geschichtsschreibung. Die Ironie der Geschichte: Das Werk erscheint bei einem erzkapitalistischen Verlag (Springer) im Zentrum Europas (Zürich).

Dem didaktischen Big-History-Ansatz entsprechend ist das Werk sehr systematisch aufgebaut und durchstrukturiert. Dank Zusammenfassungen findet man sich zeitlich oder räumlich gut zurecht. So ist das Werk trotz eines starken Spannungsbogens auch gut kapitelweise lesbar.

Schade (oder Absicht?), dass das Werk mit dem Ende des ersten Goldenen Zeitalters der Globalisierung 1914 aufhört. Es wäre spannend gewesen zu verfolgen, wie die Autoren das 20. Jahrhundert in ihr System integrieren.

Der Big-History-Ansatz ermöglicht eine zeitlich und räumlich sehr weite Perspektive. Er erlaubt einen Blick auf die Geschichte der Erde und ihrer Bewohner wie aus der Satellitenperspektive. Es werden zwar keine neuen Fakten präsentiert, aber eine Fülle an Daten zusammengetragen, welche globale Zusammenhänge und Zyklen über sehr lange Zeitperioden hinweg systematisch dokumentieren und in ein eingängiges Gesamtbild einpassen. Die «Big History of Globalization» ist ein wertvoller Beitrag zu einer Diskussion, die sich als Dauerbrenner der Geschichtswissenschaft erwiesen hat.


Zinkina, Julia; Christian, David; Grinin, Leonid; Illyin, Ilya; Andreev, Alexey; Aleshkovski, Ivan; Shulgin, Sergey; Korotayev, Andrey: A Big History of Globalization – The Emergence of a Global World System, Springer International Publishing, Zürich, 2019, 284 Seiten, eBook ISBN 978-3-030-05707-7 (Aus der Publiktinsreihe: World-System Evolution and Global Futures).   

Literaturverzeichnis

Christian, David: The history of our world in 18 minutes, TED Talk [Video], Februar 2011, online unter: https://www.ted.com/talks/david_christian_the_history_of_our_world_in_18_minutes#t-14120 (Stand: 24.10.20)

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Gates, Bill: Big History Project is Getting Bigger [GatesNotes: The Blog of Bill Gates], 30. August 2012, online unter: https://www.gatesnotes.com/Education/Big-History-Project-is-Getting-Bigger (Stand: 24.10.20)

Goldfrank, Walter L.: Paradigm Regained? The Rules Of Wallerstein’s World-System Method. Journal of World-Systems Research, 2000, 6(2), 150-195.

Kondratieff, Nikolai Dmitrijewitsch: Die langen Wellen der Konjunktur, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1926, 56(3), 573-609

Sagan, Carl; Druyan, Ann; Tyson, Neil deGrasse: Cosmos, Ballantine Books, New York, 1980

Von Humboldt, Alexander: Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 1845 – 1862, Stuttgart, Tübingen

Wallerstein, Immanuel: The Modern World-System, Bd. 1: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York 1974; Bd. 2: Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy, 1600–1750, New York 1980; Bd. 3: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World Economy, San Diego 1988

Zinkina, Julia; Christian, David; Grinin, Leonid; Illyin, Ilya; Andreev, Alexey; Aleshkovski, Ivan; Shulgin, Sergey; Korotayev, Andrey: A Big History of Globalization – The Emergence of a Global World System, Springer International Publishing, Zürich, 2019, 284 Seiten, eBook ISBN 978-3-030-05707-7 (Aus der Publiktinsreihe: World-System Evolution and Global Futures).