Es gibt sie immer wieder, diese überambitionierten Projekte. Ein solches nistete sich in meinem Kopf ein: Vier Pässe, über 4'000 Höhenmeter, an einem Stück. Was für Profis ein gemütlicher Trainingsausflug ist, stellte sich bei mir als Hobbygümmeler als echte – jedoch wunderschöne – Tortur heraus. Mein Bericht zum besagten irren Hirngespinst und wie es dazu kam.
Eigentlich stand diesen August meine erste Teilnahme beim Alpenbrevet an. Eigentlich. Das Coronavirus bereitete dem Event ein jähes Ende. Die enthusiastische Idee war die Gold-Strecke mit stolzen 206 Kilometern und 5'100 Höhenmetern. Zu Jahresbeginn fand ich mich jedoch schnell auf dem Boden der Realität: Wie um Himmels Willen soll diese Mammuttour möglich sein? Als Hobbygümmel mit Ambitionen war bei mir frisch aus dem Winter kommend nach jeweils 100 Kilometern und 2'000 Höhenmetern Schluss.
Absurderweise trainierte ich während des Lockdowns trotz Alpenbrevet-Absage überdurchschnittlich viel. Zwar erübrigte sich mein hochgestecktes Ziel, aber irgendwie packte mich der Eifer, dieses Jahr meine Grenzen auszuloten. Daher kam ich in der noch jungen Saison Mitte Mai auf eine Projektidee.
Das nahe Glarnerland und die kleinen Schwyzer-Pässe sind persönliche Highlights. Die Aufwärmtouren über die Sattel- und Ibergeregg, der mächtige und wunderschöne Klausenpass sowie der streckenweise bitterböse, dafür einsam autofreie Pragelpass sind immer wieder Ziele meiner Veloausflüge. So geschehen auch kurz nach der diesjährigen Öffnung des Klausens. Mit einigen Freunden pedallierten wir gemütlich von der Urnerseite her gen Passhöhe. Gedankenversunken kamen mir während der Fahrt zwei Einfälle: Einerseits bestritt ich den Pass schon ewig nicht mehr von der Glarnerseite her, andererseits könnte man den Pass mit den oben genannten Pendants verbinden.
Letzterer Gedanke entstand definitiv aus meiner Trainingseuphorie. Eine totale Schnapsidee, sie brannte sich jedoch fest in mein Hirn. Nur alleine fahren wollte ich dieses Biest von einer Tour nicht. Und dann kam mein durchgeknallter Kumpel.
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Riccardo ist ein guter Freund von mir und ein total Velobesessener. Eines Abends sah ich eine Tour von ihm auf Strava: Albula und Flüela. Zweimal am Stück. Es war klar, Riccardo musste mein Leidensgenosse werden, zumal wir interessanterweise sowieso noch nie zusammen auf dem Rennvelo unterwegs waren.
Gesagt, getan. Es ging gefühlte zehn Sekunden und mein Projekt hatte ein konkretes Datum. Am Pfingstmontag sollte es losgehen. Riccardo zu überzeugen war kein schwieriges Unterfangen.
Den Tag bevor es Ernst galt, überkamen mich Zweifel. Schaff ich das? Was, wenn mein Kumpel in Marco Pantani-Geschwindigkeit die Pässe hochbrettert und mich links liegen lässt? Die Skepsis verhalf mir indes zur Vernunft: Keine Party, kein Alkohol, zwei Teller Spaghetti und früh ins Bett. Es sollte sich auszahlen.
Auf den Sattel, fertig, los
Einige Stunden später standen wir parat auf dem Seeparkplatz in Lachen. Das Velo frisch geputzt, die Motivation hoch, die Wetterprognosen prächtig. So rollten wir in Richtung Siebnen los.
Alsbald ging es das Wägital hoch. Da kam auch schon die Skepsis zurück. Meine Beine waren total eingerostet und fühlten sich schwer an. Ich beruhigte mich jedoch und schob die Startschwierigkeiten auf die Psyche, die mir ein Schnippchen schlagen wollte. Spätestens nach den ersten Kurven der Sattelegg war das Geknorze vergessen und es entfaltete sich nebst der idyllischen Strassenführung auch ein Glücksmoment nach dem anderen. Es lief plötzlich wie am Schnürchen.
Die ersten Kilometer waren im Nu abgespult, der Mini-Pass lag bald hinter uns und die nächsten Höhenmeter kamen in unser Visier. In die Ibergeregg geht es quasi rollend aus der Sattelegg. Die kleine Verschnaufpause dem Sihlsee entlang motiviert. Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Wir drückten aufs Tempo und alsbald ging die Steigung wieder in positive Gefilde über.
Die Ibergeregg ist von der Ostseite her nichts Besonderes – zumindest ist das meine subjektive Wahrnehmung. Leichte Steigung, einige Kurven, Natur. Dazu bereits jetzt, in den doch noch frühen Morgenstunden, relativ viel Motorräder und Autos. Kurz vor der Passhöhe meinte Riccardo zu mir, dass er nicht erwartet hätte, dass ich so gut mithalten könne. Schmeichelhaft mit einem faden Beigeschmack. Aber so funktioniert die Kommunikation unter guten Freunden nun mal.
Nach einer Espresso-Stärkung nahmen wir die Abfahrt in Angriff. Nie zu steil, kurvig aber nicht brutal serpentinenlastig, ein phänomenaler Ritt bis nach Schwyz. Stellenweise kamen wir in einen richtiggehenden Flow, die teils haarsträubende Geschwindigkeit fühlte sich prima an.
Zwei von vier Pässen wären geschafft. Doch der Schein trügt. Das, was wir hinter uns hatten, war nicht viel mehr als ein gemütlicher Prolog im Vergleich zu dem, was noch vor uns lag. Im Wissen, dass wir noch einige Stunden im Sattel sitzen werden, vergeudeten wir keine Zeit und nahmen das Muotatal in Angriff.
Hinein in die tiefe Innerschweiz
Wie soll man die Fahrt der Strasse entlang in dieses tiefe, fast schon verwunschene Tal beschreiben? Der einzige fachlich korrekte Ausdruck, der mir einfällt ist: Geil! Fadengerader Asphalt, Berge, die sich zur Linken und Rechten auftürmen, dazwischen die spektakuläre Stoosbahn. Schlicht und ergreifend grossartig. Kilometer um Kilometer ein Genuss – die nächste Herausforderung war schon fast vergessen. Und die hat es allemal in sich.
Der Pragelpass ist ein militärisch historischer Übergang. Bereits Suworow überquerte diesen und während des zweiten Weltkriegs wurde die Strasse für den schnellen Nachschub ausgebaut. Die Ästhetik weicht hier einem gewissen Pragmatismus. Das kriegt jeder, der den Pass schon einmal von der Schwyzer Seite her anging, bitter zu spüren.
Die erste Rampe will einem schon unmissverständlich ins Gesicht schreien, wer hier das Sagen hat. Es gibt hier kein Einfahren und Warmwerden, es geht gleich mit 15% Steigung in die Vollen. Und es hört auch kaum auf, nein, es steigt noch mehr. Das steilste Stück beträgt rund 20%. So sind die ersten sechs Kilometer. Keine Verschnaufpause, keine flachen Stücke.
Wir hatten die clevere Idee, diese bein- und lungenmalträtierende Tortur rasch hinter uns zu bringen und legten extra einen Zacken zu. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein Fehler. Auf die Passhöhe schafften wir es noch ohne Probleme, die Abfahrt ist gigantisch. In erster Linie, weil sie grösstenteils autofrei ist.
Beim Klöntalersee hiess es verschnaufen und etwas Energie in den Körper bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt ernährte ich mich nur von Riegeln und Gels. Auch dies sollte sich als Fehler herausstellen. Die wirklich lächerlich mickrige Bouillon im Restaurant war dann doch eher ein Tropfen auf den heissen Stein respektive den knurrenden Magen.
Den Touristenschwarm am Klöntalersee liessen wir hinter uns und fuhren die letzten Kilometer weiter bis nach Glarus. Ein weiteres Mal hiess es, durch ein Tal zu rollen. Das Linthtal zieht sich ewig, ist jedoch ähnlich dem Muotatal einfach ein Genuss sondergleichen. Sowieso habe ich das Glarnerland in den letzten Jahren schätzen gelernt – auch aus alpinistischer Sicht ist dieser Fleck der Schweiz ein wahres Eldorado.
Vor der Kür die Pflicht
Linthal war dann auch relativ zackig erreicht, mein Kopf hatte sich jedoch noch nicht wirklich auf die letzte Mammutaufgabe, den Klausenpass, eingestellt. Vor uns lagen nochmals etwa 1'500 Höhenmeter – wohlgemerkt hatten wir davon bereits über 2'500 in den Beinen. Irgendwie fühlte ich mich frisch, aber bereits in der ersten Pavée-Kurve kamen die beiden oben genannten Fehler gnadenlos zurückgeschlagen.
Einerseits war ich doch kaputter, als angenommen. Ich bezahlte nun den Preis für den Effort am Pragelpass. Andererseits rebellierte mein Magen ob der elektrolytgetränkten Nahrung. Er krümmte sich teils förmlich und ich bekam keinen Schluck Isostar mehr runter. Riccardo zog davon, ich schaltete tempomässig mindestens drei Gänge runter.
Allein auf weiter Flur ertappte ich mich bei Selbstgesprächen. Ich verfluchte diesen elenden Pass, dieses dämliche Velo und diese hässlichen Energiegetränke. An und wann konnte ich nicht mehr und musste anhalten und die Beine ausschütteln. Ich lief auf Reserve. Irgendwann schaffte ich es auf den Urnerboden.
Dort gab es zum Glück Wasser. Kaltes, frisches Wasser. Tschüss Isostar hallo H2O. Mit Blick auf den letzten Aufstieg wurde es mir Bang. Wie um alles in der Welt sollte ich hier noch hochkommen? Ich liess Riccardo abermals ziehen und musste mich am Wegrand kurz sammeln.
Glücklicherweise habe ich einen dicken Schädel und einen zähen Willen. Irgendwie bekam ich es auf die Reihe, die nötige Motivation zu fassen, um dieses letzte Piece de Resistance zu bewältigen. Es war nicht schön, aber im rhythmischen Trott fand ich mein Tantra und kurvte mit starrem Blick und roboterartigen Bewegungen dem Gipfel entgegen. Dass nun auch noch mein Rücken begann zu schmerzen, blendete ich schlicht und einfach aus.
Kaputt aber glücklich
Endlich. Die Passhöhe. 4'200 Höhenmeter von der Checkliste gestrichen. Jetzt hiess es ausrollen. Und wie es sich vom Klausenpass ausrollen lässt. Was für eine unglaublich geniale Abfahrt. Das Allerschönste: Der Tag war bereits so weit fortgeschritten, dass kaum noch motorisierter Verkehr unterwegs war. Ewig fühlte es sich an, aber wie in einem Traum. Ganz komplementär zum Aufstieg, der einem Albtraum glich.
In Flüelen war Schluss. Was für eine Tour! 165 Kilometer und 4'200 Höhenmeter. Vier Pässe, drei Kantone. Das Alpenbrevet fällt dieses Jahr ins Wasser, es wäre aber konditionell dringelegen. Aber eigentlich ist das völlig egal, denn was mir mein Test gezeigt hat: Mit dem Velo kommt man an unglaubliche Orte und erfährt sich lebenslange Erinnerungen. Auf die nächste Pässetour!