Auch darum stockt die Digitalisierung: Entwicklungsprojekte sind für viele Kunden die Hölle.
Wenn trotz Corona die Digitalisierung in der Breite der Wirtschaft nicht richtig in Fahrt kommt, stellt sich die Frage: Weshalb sind letztlich doch wenig Firmen bereit, ihre Prozesse tiefgreifend zu reformieren, um dank moderner IT von beträchtlichen Produktivitätsfortschritten zu profitieren? Nun, mittlerweile gibt es in allen Unternehmen Menschen, welche IT-Projekte nicht als Fortschritt, sondern als Bedrohung sehen. Und zwar nicht, weil sie fürchten, einer anschliessenden Reorganisation zum Opfer zu fallen, sondern weil sie als Kadermitarbeitende bei IT-Projekten so viel negative Erfahrungen gesammelt haben, dass sie diese fürchten wie den Teufel das Weihwasser.
Ich spreche hier nicht von Technologieunternehmen oder Grosskonzernen mit ausgebauter eigener IT-Abteilung, sondern von KMU, die bekanntlich beim Ein-Mann-Betrieb beginnen, aber auch mehrere hundert Mitarbeitende umfassen können.
Die Preisspirale dreht sich
Wenn man sich im Umfeld etwas umhört, dann sitzt der Frust tief. Das beginnt damit, dass jedes IT-Projekt doppelt so viel kostet wie vorgesehen, und dies auch dann gilt, wenn man diese Regel kennt und berücksichtigt hat. Wobei dieser Wert überholt ist und heute in der Praxis wohl eher der Faktor 3 anzusetzen wäre. Weniger bekannt ist die Regel, wonach das Projekt auch doppelt so lange dauert wie vorgesehen – auch dann, wenn man dies vorher einberechnet hat. Und in der Praxis ist der Zeitfaktor wichtiger, da Time-to-Market immer entscheidender wird.
Die Kostenexplosion hat meist damit zu tun, dass bei Ausschreibungen der Gesamtpreis als Entscheidungsgrundlage eine wichtige Rolle spielt und damit in der Offerte mit allen Mitteln tief gehalten wird. Es erinnert etwas an die Web-Konfiguratoren für Luxuskarossen, bei denen jedes Features bis zu den Felgen oder den elektrischen Fensterhebern dann extra kostet. Bei Entwicklungsprojekten geht es darum, mit der Offerte ins Geschäft zu kommen und dann so viele Sachzwänge zu schaffen, dass der Kunde (aus Zeit- und aus finanziellen Gründen) nicht mehr aussteigen kann. Er muss dann zähneknirschend teure Zusatzaufträge erteilen und bei Regiearbeiten bluten. Wenn sich der Vorgang bei einem Auftrag ein paar Mal wiederholt, kann regelrechter Hass aufkommen. Der Kunde muss ihn jedoch runterschlucken, denn er ist dem IT-Entwickler völlig ausgeliefert.
Wenn es beim Kunden intern brodelt
Kommt ein weiteres Problem dazu: Wenn es zu diesen Situationen kommt, spricht längst nicht mehr das GL-Mitglied des Kunden mit dem GL-Mitglied des Lieferanten. Dies passiert auf der Umsetzungsebene, womit dann der Verantwortliche auf Kundenseite die nette Aufgabe hat, die Kosten- und Terminüberschreitungen intern nach oben zu kommunizieren. Mit der vorhersehbaren Reaktion: “Herr Huber, jetzt habe ich doch mit dem Lieferanten einen supergünstigen Fixpreis vereinbart und Sie kommen mir mit diesen massiven Mehrkosten?” Subtext: “Was sind Sie denn für eine Pfeife?”. Da der Kunde (zu Recht) von den technischen Feinheiten und Interdependenzen keine Ahnung hat, sind solche internen Diskussionen unfruchtbar, mühsam … und völlig nutzlos. Doch der Frustpegel steigt massiv weiter an.
Ärgernis Personalwechsel
Werfen wir noch einen Blick auf die angespannte Personalsituation in der IT. Der Mangel an ausgebildeten Fachleuten macht sich deutlich bemerkbar. Dabei geht es nicht primär um die fachliche Qualifikation, sondern um die hohe Kadenz der Personalwechsel. Der Aufwand, um sich in ein Business und ein darauf basierendes Digitalisierungskonzept einzudenken, ist extrem hoch. Wenn die Projektleiterin oder andere Schlüsselmitarbeitende ausgewechselt werden, ist der Braindrain gewaltig – dies kann man Stand heute mit keinem noch so elaborierten Wissens- und Projektmanagement wirklich auffangen. Und der IT-Dienstleister wird für diesen Wechsel immer gute Gründe finden, weshalb eine Mitarbeiterin abgezogen werden muss: eine schwierige Schwangerschaft, eine sechsmonatige Weltreise oder ein Traumangebot von Google. Beim Offshoring können dann noch Probleme auftauchen, die der kulturellen Distanz zwischen Hanoi und Bümplitz geschuldet sind. Wie auch immer, die Kunden fühlen sich macht- und hilflos. Sie fressen den Frust in sich rein.
Dass aufgrund der Personalsituation zum Teil weniger qualifizierte Mitarbeitende zu hohen Stundensätzen eingesetzt werden, macht es für Kunden noch schwieriger. Natürlich können sie die Qualifikation nicht direkt beurteilen, aber auf Dauer wirken sich Defizite doch spürbar aufs Projekt aus, selbst wenn man sie als Kunde nicht präzis benennen kann.
Es kann noch schlimmer werden
Besonders neckisch wird die Situation, wenn aus technischen Gründen mehrere Lieferanten zusammenarbeiten müssen, insbesondere wenn es um Schnittstellen geht. Während bei den Lieferanten jeder auf seiner Seite darauf beharrt, dass er recht habe und Mehraufwand nicht zulasten seines Budgets gehe, um das Problem zu lösen, hört der Kunde mit offenem Mund zu und fühlt langsam, aber sicher Verzweiflung aufkommen – und die Uhr läuft. Auch dies trägt nicht zu seiner Bereitschaft bei, je wieder bei einer solchen Sache mitzumachen.
Wer ist schuld?
Per Saldo bleibt bei den Kunden und ihren Mitarbeitenden der Eindruck, von A bis Z über den Tisch gezogen, abgezockt und verarscht zu werden – selbst wenn es gar nicht der Fall ist.
Heute habe ich ganz bewusst und sehr einseitig die Kundenperspektive eingenommen. Viele IT-Anbieter sind sich nämlich kaum bewusst, was bei ihren Ansprechpartnern auf Kundenseite betriebsintern und mental abläuft. Und sind dann über eskalierende Dynamik und emotionale Ausbrüche bass erstaunt. Doch nur wer sich auch in die Situation seines Gegenübers versetzt, kann ein Projekt erfolgreich über die Runden bringen.
Dass viele Kunden an diesen Problemen zu einem grossen Teil mitschuldig sind, soll das Thema einer der nächsten Blogposts werden.
Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch und inside-channels.ch. Bildnachweis: Leon bei Unsplash