Die nuklearen Anlagen in Tschernobyl sind sowohl von der Kommunikation nach aussen als auch vom Stromnetz abgehängt. Die Internationale Energieagentur zerstreut Bedenken zur nuklearen Sicherheit. Das in Geiselhaft steckende Bedienungspersonal ist am Anschlag. Auch im AKW Saporischschja ist die Lage schwierig. Die IAEA sucht das Gespräch.
Es herrscht Krieg in der Ukraine. Die Schreckensmeldungen über Gräueltaten der russischen Invasoren häufen sich. Da ist die Besorgnis um die Sicherheit der von russischen Truppen besetzten AKW-Anlagen in Tschernobyl und Saporischschja nur zu berechtigt, auch wenn es absurd ist, wenn sich Menschen in Westeuropa nun mit Jod-Tabletten eindecken. Die Besorgnis gilt der Bevölkerung in der Ukraine, aber auch der Nachbarstaaten, insbesondere Weissrussland und auch Russland, die 1986 vom radioaktiven Fallout aus dem zerstörten Reaktor in Tschernobyl stark betroffen waren – Weissrussland gar noch stärker als die Ukraine. Das nährt die Hoffnung, dass es die Besatzer nicht werden darauf ankommen lassen, auch noch eine nukleare Katastrophe zu provozieren.
Doch wie gefährlich ist die Lage? Die Internationale Energieagentur meldet, die nuklearen Anlagen, darunter die unter einem riesigen, halbrunden Dach für 100 Jahre begrabene Ruine des 1986 beim Super-Gau zerstörten, nach wie stark strahlenden Reaktorgebäudes, seien seit 10. März von der externen Stromversorgung abgeschnitten. Die beiden Stromleitungen seien beide beschädigt, auch die zuletzt noch funktionierenden E-mails kommen nicht mehr durch. Die Notstromversorgung aus Diesel-Generatoren sei aber intakt. Der Sprit reicht allerdings nur für zwei Tage. Ob Nachschub kommt, ist ungewiss. Die Generatoren versorgen die wichtigsten Sicherheitssysteme, namentlich in den Zwischenlagern und Abklingbecken für abgebrannte Brennstäbe. Licht brennt aber keines mehr. Die intakt geblieben Reaktoren in Tschernobyl wurden nach der Katastrophe noch weiter betrieben, der letzte ging 2000 vom Netz. Auch sei keine der Anlagen zerstört oder beschädigt. Selbst wenn die Diesel-Generatoren auch noch ausfielen, wäre die Überwachung des Wasserstandes und der Temperaturen nach wie vor möglich. Doch sei mit einem erheblichen Anstieg der Strahlung zu rechnen, weil die Lüftung dann nicht mehr funktioniere.
Wesentlich dramatischer ist die Lage des Bedienungspersonals. Seit russische Einheiten die Anlage am Nachmittag des 24. Februar besetzt haben, ist der Schichtbetrieb eingestellt. Wegen der Schiessereien konnte die letzte Nachtschicht nicht mehr abgelöst werden. Seither ist die Truppe rund um die Uhr im Einsatz. Eine Angehörige, die bis zum Zusammenbruch der Stromversorgung noch Kontakt zu ihrem Verwandten halten konnte, berichtet von den enormen Schwierigkeiten. So könnten verschiedene Tests nicht mehr durchgeführt werden, weil die nötigen Experten nicht mehr anwesend seien. Es mangele an Essen und Medizin. Und, das Schlimmste, die Kleidung könnte nicht mehr gewechselt werden. So könne niemand mehr sagen, wie hoch die Strahlenbelastung des Personals sei. Man schlafe auf den Schreibtischen und dürfe die Büros nur unter Bewachung verlassen, nachdem ein Mitarbeiter geflohen sei. Auch wenn keine akute Gefahr bestehe, so werde der Mangel an qualifiziertem und vor allem fitten Personal zunehmend zum Sicherheitsrisiko.
Im AKW Saporischschja sind nach Angaben der IAEA noch zwei der vier Stromleitungen in Betrieb. Mit einer intakten Leitung sei der Betrieb noch zu gewährleisten, auch die Diesel-Generatoren für den Notbetrieb seien funktionsfähig. Sorgen bereitet, dass es nicht mehr gelinge, Ersatzteile für Revisionsarbeiten an einem der sechs Reaktoren ins AKW zu liefern. Auch Spezialisten können nicht mehr aufs Gelände.
IAEA-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi kann derzeit die Bedenken nur bedingt zerstreuen, er erinnerte an einer Pressekonferenz an seine Bemühungen, einen direkten Dialog zwischen den Kriegsparteien und der IAEA zu erreichen. Das sei zumindest erreicht worden. Es gebe auf hoher Ebene Gespräche in verschiedenen Arbeitsgruppen. Man sei sich einig, mit der IAEA zusammenzuarbeiten. Mehr aber auch nicht. Er hoffe, in den nächsten Tagen konkretere Ergebnisse präsentieren zu können.