Wer im Raum Zürich in der ICT-Branche arbeitet, ist entweder ein Schmarotzer oder ein Steuerhinterzieher. Das jedenfalls scheint der ‚Tages-Anzeiger‘ zu unterstellen, der in einem Artikel beklagt, dass ICT-Firmen in der Stadt Zürich zu wenig Steuern zahlen. Die statistische Grundlage für diese Behauptung ist folgende: Die Steuererträge der 30 grössten ICT-Unternehmen in der Stadt Zürich seien in den letzten Jahren zurückgegangen, während gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten in der Branche um über 50% zugenommen habe. Die ICT-Branche wird dann mit dem Finanzsektor Zürichs verglichen, um die ungenügende Steuerleistung zu belegen. Aus diesen Zahlen wird eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen gezogen und mit diversen Vermutungen angereichert. In einem Folgeartikel werden dann Politiker motiviert, ihrerseits zu spekulieren und daraus politische Forderungen zu formulieren.

Da wir uns im Sommerloch befinden, sind die Medienschaffenden natürlich besonders dankbar für den Stoff und die politischen Akteure lechzen vor den Wahlen im Herbst nach Aufmerksamkeit. Also einfach darüber hinweggehen? Für uns als Branchenvertreter gilt es dennoch, diese Aussagen ernst zu nehmen und dazu Stellung zu beziehen, denn bei nächster Gelegenheit könnte es uns um die Ohren fliegen. Dann nicht mehr als Spekulation, sondern als scheinbar unbestrittene Fakten.

Beginnen wir mit der Feststellung, dass die Steuerbelastung der 30 grössten ICT-Unternehmen (nach Umsatz? Oder nach Gewinn?) nicht notwendigerweise mit der Gesamtbeschäftigung in der Branche korreliert, womit die ganze Betrachtung ohnehin auf tönernen Füssen steht. Aber es kann hier nicht darum gehen, Behauptungen mit Gegenbehauptungen zu bekämpfen. Meine Hauptaussage ist, dass wir überhaupt keine ausreichenden Grundlagen haben, um zu beweisen, dass die ICT-Industrie zu wenig Steuern zahlt. Schauen wir uns also die Situation genauer an.

Äpfel mit Birnen vergleichen

Bereits im ‚Tages-Anzeiger‘-Artikel wird kurz auf die Sitzproblematik hingewiesen, aber ihre Bedeutung wird völlig verkannt. Unternehmen zahlen ihre Steuern mehrheitlich an ihrem Sitz und nicht am Ort der Leistungserbringung oder am Wohnort des Kunden. Das kann man kritisieren, und es gibt auch auf globaler Ebene Initiativen der OECD, diesen Zustand zu ändern (ich habe vor zwei Jahren in einer Kolumne darüber berichtet). Aus heutiger Sicht ist es aber unsinnig, einen Vergleich der lokalen Steuererträge zwischen dem Finanzplatz Zürich mit dem Sitz zahlreicher global engagierter Banken und Versicherungen und dem ICT-Standort Zürich zu wagen: Es gibt keine einheimischen ICT-Grossunternehmen und nur wenige mittelgrosse Firmen, die zudem in spezialisierten Nischen tätig sind und kaum als global agierend bezeichnet werden können.

Zweitens gibt es in Zürich eine aktive und wachsende Startup-Community. Schätzungsweise 90% der Startups sind technologisch im ICT-Bereich tätig (auch wenn sie sich manchmal eher der Branche zugehörig fühlen, die sie disruptieren wollen). Diese Hunderte von Unternehmen wollen alle zu Einhörnern werden, bestehen aber derzeit meist nur aus ihren Gründern, zahlen kaum Gehälter, machen über Jahre keine Gewinne, sondern häufen Verluste an. Natürlich zahlen sie keine Steuern und drücken damit das Steueraufkommen pro Kopf.

Auch die übrigen ICT-Unternehmen sind oft jung. Im Gegensatz zu vielen anderen KMU haben sie kaum Zeit gehabt, Reserven und Rücklagen zu bilden, sondern müssen ständig reinvestieren, um sich in einem dynamischen Markt zu bewähren. Hinzu kommt, dass die Halbwertszeit von Innovationen in der ICT-Branche deutlich kürzer ist als etwa im Finanzsektor.

Steuerreform greift (noch) nicht

Die Vermutung, dass die ICT-Branche übermässig von den steuerlichen Abzugsmöglichkeiten der Unternehmenssteuerreform STAF Gebrauch macht, erscheint wenig plausibel. Zum einen gilt die Reform erst ab 2020 und viele Unternehmen dürften für die Folgejahre noch nicht definitiv veranlagt sein. Zum anderen ist zu beachten, dass bei der Einführung der sog. Patentbox gerade Software (mit wenigen Ausnahmen) ausgenommen wurde.

Um den Beitrag eines Unternehmens zu den Finanzen eines Gemeinwesens zu messen, müssen immer drei Komponenten betrachtet werden: Erstens: Wie viel zahlt das Unternehmen selbst an Steuern? Zweitens: Welche Steuereinnahmen löst das Unternehmen durch Aufträge an Zulieferer und lokale Subunternehmer aus? Und drittens: Wie viel Steuern zahlen die Mitarbeitenden vor Ort? Insofern beisst sich der Vorwurf linker Politikerinnen und Politiker, wonach die ICT-Firmen zu wenig Steuern zahlen, mit der Kritik von der gleichen Seite, ICT-Angestellte würden aufgrund astronomisch hoher Löhne die Stadt weiter gentrifizieren und die einkommensschwächere Bevölkerung vertreiben.

In einem Punkt stimme ich dem ‚Tagi‘-Journalisten zu: Der von ihm beschriebenen Entwicklung muss auf den Grund gegangen werden. Nicht mit Mutmassungen und Spekulationen, sondern mit einer sauberen Analyse.

Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch auf inside-it.ch. Foto von Rumman Amin auf Unsplash