Als kleiner Junge besuchte ich regelmässig die Sonntagsschule. Mehr noch als einen kindlichen Glauben haben diese Besuche in mir die Faszination für Geschichten gestärkt. Höhepunkt war jeweils die Weihnachtszeit, in der uns abermals die Geschichte der Geburt von Jesus Christus erzählt wurde.
Gemäss Lutherbibel beginnt die Geschichte im Lukas-Evangelium, Kapitel 2, mit folgenden Worten: «Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein jeglicher in seine Stadt.»
Die erste Volkszählung war also Anlass dafür, dass Josef und die schwangere Maria von Nazareth nach Bethlehem aufbrachen, wo Maria in einem Stall ihren ersten Sohn zur Welt brachte. Die Geschichte ist bekannt. Die christliche Welt erinnert sich ihrer jedes Jahr um die Weihnachtszeit. Was indes in Vergessenheit geraten ist, ist die Geschichte des Quirinius. Auch sie wirkt auf ihre Weise bis in unsere Zeit. Sie ist vielleicht aktueller denn je.
Als Emporkömmling durchlief Quirinius schnell und erfolgreich die Ämterlaufbahn und besetzte als Statthalter in Syrien ein wichtiges Machtzentrum des römischen Reichs. Nachdem er das aufständische Judäa zusätzlich seiner Einflusssphäre unterworfen hatte, musste er das Steuerwesen der neuen Präfektur organisieren. Dazu sollte ermittelt werden, wie hoch die Zahlungen an die kaiserliche Kasse künftig sein würden. Also gab Quirinius den Befehl, die steuerpflichtige Bevölkerung in Listen zu erfassen.
Demnach lässt sich die Weihnachtsgeschichte auch als Beginn der Digitalisierung lesen. Denn «Digitalisierung» umfasst nicht nur die moderne Bedeutung der Umwandlung analoger in digitale Signale, sondern auch die antike Bedeutung des Zählens. Der lateinische Begriff «digitus» heisst so viel wie Finger. Und mit den Fingern zählten und rechneten freilich schon die alten Römer. Dabei ging es nicht selten um Geld und Macht.
Mit der Weihnachtsgeschichte hat aber nicht nur das Digitale, sondern auch das Analoge an Bedeutung und Kontur gewonnen. Denn wer, wenn nicht Jesus Christus, steht für die Erzählform des Gleichnisses, die Veranschaulichung eines Sachverhalts durch Analogie. So soll Jesus gemäss Lukas-Evangelium gesagt haben: «Denn leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Was will uns das über das Zählen und Rechnen, über den Umgang mit Geld und Macht sagen?
Digitalisierung im Sinne des Zählens, Dokumentierens und Auswertens ist per se nichts Verwerfliches. Die Frage ist nur: Cui bono? Wem nützt es? Da kommt mir eine weitere Geschichte in den Sinn, die uns in der Sonntagsschule natürlich nicht erzählt wurde – leider nicht.
Die Kultur des Zählens, Dokumentierens und Auswertens begann freilich nicht erst vor 2000 Jahren, sondern schon viel früher mit der Erfindung der Linearschrift A in der minoischen Kultur auf Kreta. Jürgen Wertheimer fasst diese Epoche in seinem lesenswerten Buch «Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen» mit folgenden Worten zusammen: «In den langen Jahrhunderten seine Blüte (grob gerechnet zwischen 2500 und 1500 v.u.Z.) hatte Kreta eine einzigartige kulturelle Signatur entwickelt […] Eine Kultur, die es sich erlauben konnte, sich ganz und gar unheroisch und anmutig zu präsentieren, und weder mit den Namen grosser Herrscher prunkte, noch ein Register über Siege und Niederlage führte: Auf Tausenden von Tontäfelchen, die gewaltige Brände gehärtet und vor dem Verfall bewahrt hatten, fanden sich exakte Aufzeichnungen über Herden, Ernten, Steuern und Opfergaben. Hinweise auf bedeutsame historische Ereignisse und Triumphe sucht man vergebens. Dafür überliefern die Fresken an den ehemaligen Palastmauern das Bild einer auf spielerische Eleganz, weibliche Dominanz und urbane Selbstsicherheit ausgerichteten Welt.»
Dieser haushälterische und gemeinnützige Zweck des Zählens, Dokumentierens und Auswertens wirft die Frage auf, wie wir heute mit all den gesammelten Daten über Mensch, Tier und Umwelt umgehen. Mit den Daten, die als «das Gold des digitalen Zeitalters» gehandelt werden. Cui bono?
In diesem Sinne wünsche ich eine besinnliche Adventszeit.