Die Atomenergie gilt als CO2-emissionsarm und wird deshalb von deren Befürwortern zumindest als Brücken- oder gar alternativlose Basistechnologie für eine klimagasfreie Zukunft gepriesen. Die Wiener Umweltökonomin Sigrid Stagl hat sich die Sache im Auftrag des österreichischen Umweltministeriums auf Basis neuer EU-Vorschriften zur nachhaltigen Wirtschaft genauer angeschaut und kommt zum Schluss: Es gibt Besseres.
In Österreich war die Atomenergie Vergangenheit, als die Gegenwart eben hätte eingeläutet werden sollen. Das fertig gebaute Atomkraftwerk Zwentendorf wurde nach einem negativen Volksentscheid im November 1978 nie in Betrieb genommen, und ernsthaft ist seither nicht mehr darüber diskutiert werden, darauf zurückzukommen. Da mag es schon etwas seltsam erscheinen, dass ausgerechnet die Alpenrepublik eine Metastudie in Auftrag gibt, um herauszufinden, ob die Atomenergie den geltenden Kriterien der Europäischen Union für eine nachhaltige Wirtschaft entspricht. Das liegt sicher auch in der Person der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler begründet, die als Geschäftsführerin der Umweltorganisation Global 2000 in den Jahren 2014 bis 2019 das ökologische Gewissen der Nation repräsentierte. Die Grünen haben als Juniorpartner der übermächtigen Österreichischen Volkspartei unter Kanzler Sebastian Kurz einen schweren Stand. Machtlos und ohnmächtig mussten sie der Ausschaffung dreier gut integrierter Familien zusehen, im Parlament stimmten die Grünen mit der ÖVP und der rechtsradikalen FPÖ gegen einen Antrag, der eine Rücknahme der Ausschaffung verlangte – die Koalitionsdisziplin ging vor. Bei einer Annahme durch die grünen Abgeordneten wäre das türkis-grüne Bündnis Geschichte gewesen. So weit wollten es die Grünen nicht kommen lassen. Das hat viel mit dem Klimaschutz zu tun, neben Menschenrechts- und Asylpolitik dem grossen Kernanliegen der Grünen, die in der Person von Leonore Gewessler die Idealbesetzung dafür gefunden haben. Es steht zwar noch in den Sternen, ob die Grünen sich gegen die in der ÖVP stark verankerten Partikularinteressen aus Land- und Energiewirtschaft durchsetzen werden, aber im Grundsatz sind sich die sonst so ungleichen Koalitionspartner einig, dass nach langen, verpassten Jahren nun endlich damit Ernst gemacht wird.
Die Atomenergie wird in der österreichischen Energiewende mit Sicherheit keine Rolle spielen. Das sieht Brüssel etwas anders. Zwar findet sich im eine Trillion Euro schweren «Green Deal» keine Unterstützung zur Förderung der Nuklearenergie mehr, doch EU-Klimachef Frans Timmermanns stellte auch klar, dass man den Mitgliedsstaaten keine Steine in den Weg legen werde, sollten sie ihre Ausbaupläne weiter verfolgen, wie es etwa die Internationale Energieagentur empfiehlt. Nur Geld aus Brüssel, wie es Polen und Tschechien verlangen, soll es dafür keines mehr geben. Und die Atomkraft soll auch genutzt werden können, um Wasserstoff zu produzieren. Anderseits hat die Europäische Union sich in den vergangenen Jahren dazu durchgerungen, Standards für eine nachhaltige, klimafreundliche Wirtschaft zu definieren. Die Taxonomie-Verordnung, die in Fragen des Klimaschutzes 2022 in Kraft tritt, definiert Vorgaben für nachhaltige Investitionen und verpflichtet Investitionsfonds zur Offenlegung der Nachhaltigkeit ihrer Kapitalgeschäfte. Die Verordnung legt die Kriterien fest, nach denen eine Wirtschaftstätigkeit als nachhaltig eingestuft werden kann. Sie drehen sich um sechs Umweltziele: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz der Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Zu mindestens einem dieser Ziele muss ein «wesentlicher» Beitrag geleistet werden, und für alle Ziele gilt, dass diese nicht wesentlich verletzt werden dürfen. Dazu wird die Einhaltung von internationalen Sozialstandards in der Produktion verlangt.
Da liegt die Frage auf der Hand, inwieweit die Atomenergie diesen gerecht wird. Die Wiener Umweltökonomin Sigrid Stagl hat sich in ihrer Metastudie die Forschungsergebnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte zu Fragen der Nachhaltigkeit der Atomenergie angesehen. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Zwar bestreitet niemand, dass die Treibhausgasemissionen der Kernkraftnutzung im Vergleich mit fossilen Brennstoffen deutlich niedriger sind. Das bedeute, dass die Kernenergie «grundsätzlich dem Kriterium hinsichtlich einer Reduktion oder Stabilisierung von Treibhausgasen» entspreche. Keine Einigkeit in der Forschung herrscht aber in der Frage, ob die Kernenergie tatsächlich in einem künftigen CO2-neutralen Energiemix in Frage kommt. Denn es gibt gleich mehrere Energiequellen, die nochmals teils deutlich geringere Treibhausgasemissionen ausweisen: Wind, Wasserkraft, Gezeiten, Geothermie, thermische Solarenergie, und, mit einer etwas weniger günstigen CO2- Bilanz, die Photovoltaik. Zu bedenken gelte es dabei auch, dass der Gehalt an grauer Energie durch die angesichts schwindender Vorräte, die bei gleichbleibender Nutzung noch für etwa ein Jahrhundert reichen würden, zunehmend schwieriger werdende Uranförderung deutlich steigen dürfte. Damit dürfte die Atomenergie, wie es in einer Studie heisst, «um vieles weniger zur CO2-Reduktion beitragen» als erneuerbare Energien. Eine Studie zu den «BRICs»-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zeigt, dass die Schlüssel zur Energiewende vor allem bei einer effizienteren Nutzung und bei erneuerbaren Energien liegen. Auch als Brückentechnologie, die solange genutzt wird, bis ausreichend erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, kommt die Atomenergie nur sehr bedingt in Frage. Das liegt vor allem an den extrem hohen Investitionskosten, der zumindest in demokratischen Ländern sehr langen Realisierungphase (bis zu 19 Jahre), was wiederum den Ausstieg aus dem Kohlestrom zumindest deutlich verzögern würde. Die Wirtschaftlichkeit der Atomkraftwerke hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend verschlechtert, die derzeit stark propagierten Kleinstreaktoren sind nochmals teurer, und kein Mensch weiss heute, ob die Fusionsreaktoren, deren Entwicklung noch Jahrzehnte dauern wird, je rentabel betrieben werden können. Und selbst wenn es gelänge, bis 2050 ein Kraftwerk zu bauen, würde es nochmals sehr lange dauern, bis diese einen signifikanten Beitrag zur Energieversorgung der Welt leisten könnten. Das ist schlicht zu spät, um die Erderwärmung auf die angepeilten 1,5 Grad zu begrenzen. Nahezu unerreichbar ist für die Atomenergie das Ziel Kreislaufwirtschaft. Denn dazu zählen laut Taxonomie-Verordnung die Langlebigkeit der verwendeten Materialien, die Verringerung der Umweltauswirkungen ihrer Verwendung, die Vermeidung oder Verringerung der Abfallerzeugung und gefährlicher Stoffe, und das über den gesamten Lebenszyklus eines Kraftwerkes. So ist nicht in Sicht, wie die negativen Auswirkungen des Uranabbaus, die vergleichbar mit jenen der Kohle sind, eingeschränkt werden könnten – eher ist das Gegenteil der Fall. Und mit Ausnahme von Finnland ist die Endlagerung des radioaktiven Abfalls (12'000 Tonnen jährlich) noch in keinem einzigen Land geregelt. Diese Emissionen lassen sich nicht verringern, auch wenn die Industrie davon ausgeht, dass ab der Jahrhundertmitte eine neue Generation von Reaktoren den Brennstoff effizienter nutzen wird, was aber bei einem Ausbau wiederum konterkariert würde.
Inwieweit die Taxonomie-Verordnung, die in allen EU-Mitgliedsstaaten bis 2022 Gesetzeskraft erlangen muss, die Geldbeschaffung für AKW-Projekte erschweren wird, steht in den Sternen. Denn längst haben sich die Gewichte auf dem internationalen Parkett verschoben. Die grossen Player der Zukunft kommen nicht mehr aus den USA, Japan oder Europa, sondern aus China und Russland. So hat China eben den ersten Atomreaktor aus eigener Entwicklung in Betrieb genommen. «Hualong One». Bis 2030 sollen 30 Reaktoren der dritten Generation exportiert werden. Der russische Staatsbetrieb Atomstroieexport hat bereits AKW’s in China, im Iran, Bulgarien, Indien, Ungarn und Weissrussland realisiert.