Die Schweizer AKW am Flusslauf der Aare dürften auch extremsten Hochwasser widerstehen, stellt eine Expertenkommission in einem Bericht fest. Doch der Teufel könnte im Detail stecken: Schwemmholz, das sich an Brücken verfängt, könnte gefährliche Erosionsprozesse auslösen.

 

«El ham du lilah»: Was ihr seid, waren wir. Was wir sind, werdet ihr. Ein Messingtäfelchen an einer Felswand beim «Büffel», etwas unterhalb der Mündung des Schwarzwassers in die Sense, erinnert mit dem arabischen Gotteslob an Werden und Vergehen, und an das grosse Ganzen. Viermal hat an dieser Stelle die Sense  in den vergangenen drei Jahrzehnten Hochwasser geführt, wie es statistisch nur alle dreissig Jahre zu erwarten gewesen wäre. Dann steigt der Wasserpegel in der Schlucht um mehrere Meter, die Abflussmenge lag 1990, beim extremsten Hochwasser, das je gemessen wurde, mit 498 Kubikmetern um das Dreifache über dem durchschnittlichen Höchststand. Niemand kann sicher sagen, ob diese Häufung von starken Hochwassern ein statistischer Ausreisser war oder als Anzeichen für eine Häufung von Extrem-Ereignissen zu sehen ist, wie sie sich mit einer berechneten Erwartungshaltung aufgrund der Vergangenheit nicht vorhersehen lässt.

Die Sense ist einer von vielen Zuflüssen des grössten Schweizer Flusses: der 287 Kilometer langen Aare. Ihr Einzugsgebiet umfasst 43 Prozent der Landesfläche. In unmittelbarer Nähe des Flusses finden sich neben Städten wie Thun, Bern, Solothurn, Olten und Aarau auch viele Industrieanlagen, 19 Wasserkraftkraftwerke, das 2019 abgeschaltete AKW Mühleberg sowie die AKW’s Beznau und Gösgen. Der durch eine schwerwiegende Fehleinschätzung des Tsunami-Risikos ausgelöste Super-Gau der vier Reaktorblöcke des AKW Fukushima hatte das Problembewusstsein für die Hochwasser-Risiken der Schweizer AKW’s geschärft. Bis dahin war man bei den Schutzmassnahmen teilweise nur von Hochwassern ausgegangen, die alle 10'000 Jahre zu erwarten sind – die Datenlage erlaubte allerdings teilweise nur zuverlässige Schlüsse für Hochwassereignisse, die alle 300 Jahre zu erwarten sind. Nach Fukushima erging 2016 der von den Bundesbehörden erteilte Auftrag an eine internationale Expertengruppe, erweiterte Grundlagen für die Beurteilung der Hochwassergefährdung zu erarbeiten. Nach einem halben Jahrzehnt liegt dieser Bericht nun vor. Es soll, auf Basis von über Jahrzehnte erfassten Abfluss- und Wetterdaten an verschiedenen Standorten an der Aare, eine bislang unerreichte Genauigkeit erreichen, und das in einem Prognosezeitraum von nahezu 300'000 Jahren. Das Ergebnis erfreut – auf den ersten Blick. Auch einem Hochwasser, wie es alle 100'000 Jahre zu erwarten wären, wären die Atomkraftwerksanlagen wohl gewachsen. Doch es mutet schon etwas seltsam an, wenn noch vor zehn Jahren behauptet worden war, man sei für die 4'200 Kubikmeter pro Sekunde an der Mündung in den Rhein, die unweit des AKW Beznau liegt, gewappnet. Und nun sollen es gar 7'000 Kubikmeter sein, die alle 100'000 Jahre zu erwarten wären. Am AKW Beznau berechneten die Experten beim 10'000 Jahre – Hochwasser eine Überflutung der Notstandsbauten, wo in einiger Höhe die Dieselreaktoren stehen, die bei einem Stromausfall die Kühlung des Reaktors sicherstellen, von 38 Zentimetern. Bei einem 100'000 Jahre – Ereignis wären es 1,1 Meter. Weil in Fukushima diese Aggregate in den überfluteten Kellerräumen standen, waren diese ausgefallen – drei Kernschmelzen waren die Folge. Hauptsächlich verantwortlich für das bis zu 12mal höher als normal steigende Wasser wäre Schwemmholz, das sich an Brücken staut. Beim Atomkraftwerk Gösgen ist das eine Fussgängerüberführung, die zum AKW-Gelände führt. Kommt das 100'000 Jahre – Hochwasser, steigt der Pegel der Aare bis hinauf zur 7.1 Meter hohen Brücke, Baumstämme verfangen sich und bilden einen Damm, der das Wasser umleitet – auf das AKW-Gelände. Dieses würde bis zu 1,3 Meter unter Wasser stehen. Es gibt aber ein nur schwer berechenbares Moment: Erosion durch Unterspülung der Ufer. Diese seien beim AKW Gösgen schon beim 10'000 Jahr – Ereignis möglich, wenn es an der Fussgängerbrücke zu Verklausungen durch verkeiltes Schwemmholz komme. Mit Detailstudien soll dieses Risiko weiter untersucht werden.

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat hat in einer ersten Stellungnahme folgenden Schluss daraus gezogen: «Die Überflutungshöhen, die in der Studie für das 10’000-jährliche Ereignis ausgewiesen sind, werden durch die vorhanden Sicherheitsmargen der Kernanlagen an der Aare beherrscht. Detailabklärungen sind aber insbesondere zur Ufererosion erforderlich.» Dabei, so kritisierte die Schweizer Energiestiftung, habe gerade Fukushima gezeigt, «dass auch wenig wahrscheinliche Ereignisse durchaus eintreten können». Das ENSI verlangt nun von allen Betreibern nuklearer Anlagen, unter ihnen auch das Paul Scherrer Institut, wo leichte und mittlere atomare Abfälle zwischengelagert werden, die Aktualisierung ihrer Sicherheitsnachweise. Diese müssen laufend dem letzten Stand des Wissens angepasst werden. Die Schweizer AKW’s haben keine befristete Betriebsbewilligung. Sie dürfen solange betrieben, als dass sie als sicher gelten.