Die vier grössten Stromproduzenten der Schweiz sind europäischer denn je. Mit Ausnahme der Wasserkraft setzen sie fast ausschliesslich auf Investitionen in Kraftwerke im europäischen Ausland, wie eine Analyse der Schweizerischen Energiestiftung zeigt. Das befördert zwar den nach wie vor viel zu langsamen Umbau auf neue erneuerbare Energiequellen, rückt aber die selbst gesteckten Schweizer Ausbauziele in noch weitere Ferne. Das liegt weniger an den Grossproduzenten als an mangelnder staatlicher Förderung.

Das Gas-Kombi-Kraftwerk Teverola bei Neapel gehört dem Schweizer Repower-Konzern (Bild: Repower)

Im vergangenen November hat das Graubündner Energieunternehmen Repower die grösste Photovoltaikanlage des Engadins ans Stromnetz angeschlossen. Die 3447 Solarmodule auf dem Dach der neuen Kläranlage Oberengadin in S-Chanf haben eine Kapazität von 1,2 Megawatt. Damit können rund vier von 100 Haushalten in der Region mit Solarstrom versorgt werden. Repower verfolgt die ehrgeizigsten Umbauziele der vier grossen Schweizer Stromversorger, zu denen neben dem Bündner Unternehmen Alpiq, Axpo und BKW gehören. Sie alle befinden sich mehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand oder öffentlich-rechtlicher Betriebe. Als einziges Grossunternehmen hat Repower schon 2016 den Ausstieg aus fossilen und nuklearen Quellen angekündigt und investiert nur noch in erneuerbare Energien. Das klingt auf den ersten Blick recht beeindruckend, doch der zweite Blick zeigt ein Energieunternehmen, das 2020 fast 40 Prozent des Stromes im italienischen Gas-Kombi-Kraftwerk Teverola produzierte, während der Anteil der Photovoltaik bei gerade mal 1,1 Prozent lag. Wind erreicht von 6,8 Prozent, Wasser 45,4, die Atomkraft 7,3 Prozent. Teverola poliert die Erfolgsrechnung von Repower gewaltig auf, wird es doch als Regelkraftwerk ähnlich einem Stausee immer dann eingesetzt, wenn die Energienachfrage besonders gross ist – und entsprechende Preise verlangt werden können. Im Geschäftsjahr 2020 verdiente Repower in Italien im operativen Geschäft 71,7 Millionen, in der Schweiz waren es gerade mal 16,2 Millionen. Teverola könnte zum Klumpenrisiko werden. Das hängt ab von der Ausgestaltung geplanter Kapazitätsmärkte, bei denen die Regelenergie mit der Bereitstellung von Kapazitäten auf eigenen Marktplätzen ausgehandelt wird. Bei den anderen Anbietern heisst das Klumpenrisiko Atomkraft. Deren Anteil liegt bei der Axpo bei 51,8 Prozent, bei Alpiq bei 39,0 und bei BKW nach der Abschaltung des AKW Mühleberg 2019 bei 25,3 Prozent. Die Atomkraft ist, zumindest nach den derzeitigen Projektionen zur Schweizer Energiezukunft, ein Auslaufmodell. Drei der vier verbliebenen Schweizer Kraftwerke leben ein ursprünglich ungeplantes zweite Leben und sind mit Betriebszeiten von über 40 Jahren im «Langzeitbetrieb», das vierte, Leibstadt, erreicht 2024 dieses biblische Alter. Sie dürfen solange weiterbetrieben werden, als dass sie als sicher gelten, und das könnten nach den Vorstellungen der Behörden durchaus 60 Jahre werden, um Zeit zu gewinnen für den Ausbau der neuen erneuerbaren Energien.

Wer von den fossilen und atomaren Brennstoffen zur Stromproduktion - und bis Mitte des Jahrhunderts nach den Vorstellungen der Internationalen Energieagentur für mindestens drei Viertel des gesamten Energiedarfs - wegkommen will, braucht vor allem Wind und Sonne. Beide gibt es gratis und franko, und deren enormes Potenzial ist unbestritten – vor allem bei der Sonnenenergie auch in der Schweiz. Da könnte man meinen, dass die grossen Vier der Schweizer Strombranche eine Vorreiterrolle einnehmen, um die grösste energiepolitische Herausforderung der Moderne zu meistern. Das tun sie durchaus, auch wenn das Ausbautempo nach wie viel zu bescheiden ist, um auf den erwarteten grünen Zweig zu kommen. So ist etwa Alpiq aus der Kohlestromproduktion ausgestiegen, Axpo hat den Erdgasanteil drastisch heruntergeschraubt und die BKW das Atomkraftwerk Mühleberg abgeschaltet. Das schlägt sich auch in der Umweltbilanz nieder. Die nach einem neuen Berechnungsverfahren ermittelten «Umweltbelastungspunkte», die den gesamten Produktionszyklus und nicht nur die reinen CO2-Emissionen berücksichtigten, gehen leicht zurück. Das spiegelt auch die steigenden Investitionen in neue erneuerbare Energien, deren Produktion im Zweijahresvergleich teils deutlich gesteigert werden konnte. Doch der Anteil an der Gesamtproduktion ist nach wie vor sehr gering. Im Durchschnitt der vier Stromproduzenten, die zusammen mehr als den Schweizer Jahresstromverbrauch produzieren, liegt er bei sechs Prozent, wobei BKW (13,1 Prozent) deutlich darüber, Alpiq (3,3 Prozent) deutlich darunter liegt. Dazu kommt, das nur ein Bruchteil dieses sauberen Stromes in der Schweiz hergestellt wird. Die grossen Vier ziehen es vor, im europäischen Ausland zu investieren, sei es in italienische Photovoltaikkraftwerk oder Windfarmen in Norwegen. Das macht aus ökonomischer Sicht aus Sinn, sorgt doch in diesen Ländern der Staat mit garantierten Mindestpreisen beziehungsweise Bevorzugung des Ökostroms am Markt dafür, dass die Rechnung auch auf lange Sicht aufgeht - der Investitionshorizont liegt bei 30 Jahren und mehr. In der Schweiz gibt es für grössere Kraftwerke keine beziehungsweise nur ungenügende Fördergelder, was angesichts teils hoher Gestehungskosten Investitionen tendenziell unrentabel macht, sofern sich keine Abnehmer finden, die bereit sind, einen höheren Strompreis für die saubere Energie zu bezahlen – was eher die Regel als die Ausnahme ist. Der Markt wird es auf absehbare Zeit nicht richten, auch wenn die Gegner des an der Urne gescheiterten CO2-Gesetzes dies behauptet hatten. Und so werden die grossen Schweizer Stromproduzenten zwangsläufig immer europäischer: Auf eine Jahresproduktion von 11,5 Terrawattstunden bezifferte Ende 2019 der ThinkTank Energie Zukunft Schweiz die bereits getätigten Investitionen – rund ein Fünftel des Schweizer Jahresverbrauchs. In der Schweiz Derweil müssen in der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten bis 2025 die grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel innerhalb der EU reservieren. Ob die Schweiz an diesem Handelssystem teilnehmen wird, ist ungewiss. Versorgungsengpässe könnten schon in naher Zukunft die Folge sein. Auch wenn trotz derzeitiger politischer Eiszeit im Verhältnis zur EU nicht davon auszugehen ist, dass die Schweiz aussen vor bleibt, so ist es angesichts der enormen Herausforderung, atomare und fossile Brennstoffe in nur einer Generation zu ersetzen, durchaus denkbar, dass die sich abzeichnenden Stromlücken der Zukunft angesichts einer viel zu geringen Inland-Produktion nur für sehr teures Geld geschlossen werden können - oder die Atomkraftwerke einfach noch länger laufen. Es wäre der klassische Rohrkrepierer.